Herausforderung Mathe

Stephan Sigler

Auch in der Waldorfschule gibt es das Fach Mathe­matik! Die pädago­gischen Ideale sind dort diesbezüglich hoch: Es soll Vertrauen in das Denken geschaffen werden, das geordnet und erkraftet werden soll. Mathematik ist somit – verkürzt gesagt – eine »Vorschule zum Geist«. Welch wunderbare Aussichten für Waldorfschüler…! Doch was unterscheidet den Mathematikunterricht in der Waldorfschule eigentlich vom herkömmlichen Unterricht?  Vielleicht nur die »nettere« Atmosphäre? 

Auf die Methode kommt es an

Der Kenner der Waldorfpädagogik wird auf andere inhaltliche Schwerpunkte verweisen. Der Standardstoff muss allerdings ebenfalls unterrichtet werden, sodass es in erster Linie doch auf das Methodische ankommt. Auf diesem Felde ist auch nach über 90 Jahren Waldorfpädagogik noch sehr viel zu erarbeiten, denn schon ein Blick auf die aktuellen Entwicklungen der akademischen Mathematikdidaktik zeigt einen erheblichen Nachholbedarf!

Die rein platonische Sicht, die Mathematik sei ein zu bestaunendes aber hermetisches Gebäude, ehern beständig in seiner Wahrheit, muss radikal aufgebrochen werden: Die Welt der Mathematik muss auch die Welt des Schülers werden  – aber nicht so, dass der Schüler seine Welt verliert, sondern dass er seine Welt ins Mathematische erweitert. Bildung ist nicht Entgegennahme von etwas, sondern der Prozess des Welt-Bildens (Hartmut Köhler). Der Schüler wird in den Prozess des Bauens mit hinein genommen und wird so zum Selbstbauer. Die Einsicht in die allgemeine Richtigkeit und Gültigkeit der Sache muss zur Einsicht in die zueigen gemachte und gleichzeitig hervorgebrachte Wahrheit für den Schüler werden. Um diesen Schritt im Unterricht zu gehen, kann die methodische Gliederung, die Rudolf Steiner für den Hauptunterricht in der Oberstufe vorschlägt, wegweisend sein (siehe Literaturhinweis).

Drei Schritte zur Erkenntnis

Ein erster Unterrichtsschritt besteht darin, dass Schüler in den zu erarbeitenden Phänomenbereich eintauchen. Da mathematische Phänomene nur vorhanden sind, wenn sie vom Schüler selbst hervorgebracht werden, muss gerechnet, gezeichnet und vorgestellt werden. Die Kunst dabei ist die, dass der innere Zusammenhang der Sache zwar in den Phänomenen lebt, aber noch nicht explizit wird und dass alle Schüler eintauchen können. Es handelt sich also darum, in das Werden der Erscheinung wahrnehmend tätig einzutauchen. Der Schüler lebt in der Sache mit, ist mit ihr zusammen. Die Sache selbst spricht sich in konturierter Weise aus.

In einem nächsten Schritt werden die Phänomene nochmals ins Bewusstsein gehoben, beschrieben, geordnet, Entdeckungen ausgesprochen. Dadurch kann der Schüler sich etwas zueigen machen und gleichzeitig ein freieres Verhältnis zu der Sache gewinnen, in die er in der ersten Phase vollständig eingespannt war. Eine zufriedene, entspannte, zuweilen humorvolle Stimmung kann im Klassenzimmer herrschen. Bildlich gesprochen hat man sich mit dem Neuen befreundet und es sich mit ihm innerlich gemütlich gemacht.

In der dritten Unterrichtsphase, die erst am nächsten Morgen, also nach einer Nacht, beginnt, werden die Phänomene auf ihren inneren Zusammenhang befragt. Welchen geistigen Funken kann man aus den Phänomenen schlagen? Welches Licht wirft dieser Funke auf andere Bereiche, auf das, was sich der Schüler schon erarbeitet hat? Die Erklärungen werden weniger an die Phänomene herangetragen, als aus ihnen herausanalysiert. Sie zeigen nichts Neues, Anderes oder gar eine »Theorie«, die etwas »erklärt«, sie zeigen nur sich selbst. Sie sind durchsichtig geworden. Man kann durch sie hindurch auf das Wesen einer Sache blicken. Dabei kommt dem Lehrer ausschließlich eine moderierende Rolle zu; inhaltlich nimmt er sich vollständig zurück. Höchste Aktivität des betrachtenden Denkens ist schülerseitig gefragt. Die Schüler können und müssen dabei aber auf die gemachten Erfahrungen zurückgreifen. Alles lag ja schon vor Augen, jetzt wird es nur sichtbar gemacht. Dadurch entsteht überhaupt erst die Möglichkeit, wirklich selbstständig Gedanken an der Erfahrung zu bilden. In diesem Erlebnis der Selbstständigkeit des Denkens, das sich nicht abschließt, sondern in die (auch mathematische) Welt hineinführt, liegt ein Quellpunkt der Entwicklungsmöglichkeit von Jugendlichen.

Aufgaben der Schulbewegung

Um dem in der Waldorfpädagogik Veranlagten noch näher zu kommen, braucht es dringend zweierlei: Einmal eine pädagogische Forschung, die den beschriebenen Lernvorgang genauer untersucht und befragt, die Fragen wie Binnendifferenzierung, Fähigkeitserwerb, Methodenvielfalt, Arbeitsformen in diesen Gang einordnet. Zum anderen muss die Waldorflehrerausbildung und -weiterbildung für die Oberstufe ein eigenes Profil gewinnen und deutlich intensiviert werden. Die Anstrengungen, auch finanzieller Art, würden sich lohnen: Man stelle sich vor, Eltern schickten ihre Kinder auf eine Waldorfschule, weil diese in der Oberstufe neben den üblichen Events Klassenspiel und Praktika ein eigenes wissenschaftliches Profil hat, weil dort der ungeheure, latente Idealismus der Schüler geistig Nahrung bekommt und neue, junge, akademisch gut ausgebildete Lehrer in die Oberstufen drängen, weil sie dort in obigem Sinne unterrichten dürfen. Wenn es nach über 90 Jahren Waldorfschule gelingt, in diese Richtung deutlich sichtbare Schritte zu tun, würde aus einem Zukunftstraum eine reale Perspektive.

Zum Autor: Stepahn Sigler ist Oberstufenlehrer an der Freien Waldorfschule Kassel und Dozent am Lehrerseminar in Kassel für Mathematik und Geographie.

Literatur: Hartmut Köhler: Bildung und Mathematik in einer gefährdeten Welt. Buxheim/Eichstätt 1993; Rudolf Steiner: Menschenerkenntnis und Unterrichtsgestaltung 1921 (GA 302), dort besonders der 2. und 3. Vortrag, und Allgemeine Menschenkunde 1919 (GA 293), 9. Vortrag