Ausgabe 11/24

Horizonte entdecken und Ideale kultivieren.

Jessica Gube

Der französische Dichter Antoine Saint-Exupéry schrieb: «Wenn Du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.» Eine Weisheit, die die Motivation als Kraftquelle aller Aktionen definiert. Durch Sehnsucht und Interesse den Willen so motivieren, dass daraus Taten werden. Das Meer als Ideal von Freiheit, Weite, Wildnis, Abenteuer und Grenzerfahrung betrachten, vielleicht auch als Bild eines Höheren, Größeren, zu dem man sich wendet, um darin aufzugehen, sich zu verbinden: Diese grundlegenden Motive können besonders für die Entwicklungsphase, in der sich junge Menschen neu orientieren, in der sie aus der Führung der Erwachsenenwelt herauswachsen und in ein selbstbestimmtes Denken und Handeln hineinfinden, wesentlich sein.

Etwas in der Welt bewegen
 

Für die neunte Klasse der Waldorfschule in Ostholstein stehen im Französischunterricht zwei Lektüren an. In beiden Fällen schauen die Protagonist:innen lesend über den Tellerrand hinaus, fragen aber gleichzeitig nach dem eigenen Leben. Und sie sind von Aufgaben begleitet, die von den Schüler:innen die eigene, weiterführende Recherche verlangen. Inhalt ist jeweils eine Biographie – anhand von Ereignissen, die einst tatsächlich stattgefunden haben, kann man lesend der Frage nachspüren, was in der Welt durch ein einzelnes Menschenleben bewegt werden kann. Zusätzlich wird jede Lektüre durch eine Exkursion abgerundet, sodass auch durch äußere Bewegung der Blick über das Klassenzimmer hinauswandert. Die erste Lektüre ist ein Kinderbuch. Besonders ist, dass der Autor an der Lensahner Waldorfschule persönlich bekannt ist und das Buch auf ansprechende Weise auch von ihm selbst illustriert wurde. Das Buch Mamta hat Jacques Monteaux verfasst, ein pensionierter Waldorflehrer aus Frankreich, der in Indien die Darbari School gründete und leitete. Die dringendsten Anliegen dieser Schule waren die Schulbildung für Mädchen und die Vermeidung von Kinderehen. Zwischenzeitlich musste die Einrichtung schließen, arbeitet aktuell jedoch auf einen Neustart hin. Monteaux hatte wenige Monate zuvor an unserer Schule einen Vortrag gehalten, sodass Autor und Buch lebhaft vor dem inneren Auge standen. Mamta ist ein Stück authentische, originale Literatur, ursprünglich nicht für pädagogische Zwecke geschrieben. Die bewegende Erzählung eines einfachen Mädchens, das seinen ganz eigenen Weg aus der Armut sucht und findet, ergibt in der neunten Klasse viele Überlegungen, die immer auch die eigenen Vorstellungen hinterfragen. Wie stehe ich in der Welt? Wohin will ich? Was kann ich selbst tun und verändern?

Die Lebenswelt Indiens führt irgendwann auch zu Mahatma Gandhi, seinen Taten und Werken. Wir lernen einige seiner überlieferten Gedanken in französischer Übersetzung kennen und sehen schließlich bei einem Ausflug in das eigens für uns reservierte Kino im Nachbarort den berühmten gleichnamigen biographischen Film mit Ben Kingsley. «Ich habe, nachdem ich das Buch gelesen hatte, angefangen darüber nachzudenken, was ich möchte und wofür ich lebe», sagte die Schülerin Lia. Ihr Mitschüler Onno meinte, es sei «erschreckend und bewegend zugleich, da das Buch zeigt, wie schlecht unsere zivilisierte Welt an vielen Stellen noch ist.»

Louis Braille
 

Die zweite Lektüre ist die Lebensgeschichte von Louis Braille in der Schülerfassung von Jocelyne Texier. Auch hier gibt es einen benachteiligten jungen Menschen – benachteiligt nicht durch Armut, sondern durch Behinderung. Unbeirrt verfolgt er seine Ziele, wächst durch die Unterstützung eines günstigen Umfeldes über sich hinaus und macht eine bahnbrechende Erfindung, die weltweit Bedeutung erlangt – die Blindenschrift, auch Braille-Schrift genannt.

Veränderte Wahrnehmung
 

Bei einem Ausflug nach Hamburg besuchen wir den Dialog im Dunkeln, eine Ausstellung in der berühmten Speicherstadt, in der man durch eigenes Erleben in die Welt der Blinden eingeführt wird. Mit Blindenstock und in komplett schwarzen Räumen darf die Klasse am eigenen Leib ganz neue Erfahrungen machen und den Blick auf das Gewohnte verändern. Besonders bewegend ist, dass blinde Menschen die Ausstellungsbesucher:innen führen und im Anschluss ein Gespräch möglich ist, in dem man – noch immer komplett im Dunkeln in der Dunkel-Bar – bei einem Getränk und einem kleinen Imbiss auch persönliche Fragen stellen kann. Ohne sich gesehen zu haben, geht es am Ende durch die Schleuse wieder in den sichtbaren Bereich des Dialoghauses. Auch ohne optisches Erlebnis bleiben intensive Eindrücke, die Schülerin Runa resümmierte: «Es hat mich bewegt, zu erleben, wie es wirklich ist, nicht sehen zu können. Mein Bewusstsein für dieses Thema hat sich verändert.» Der Kleine Prinz von Antoine Saint-Exupéry sagt: «Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.» Während der Aufbruchsstimmung im Jugendalter Ideale zu kultivieren und den Horizont zu erweitern, kann eine wichtige Weichenstellung für den Weg ins Erwachsenwerden darstellen.

Bei Interesse an Jacques Monteaux, seinen künstlerischen Arbeiten und dem Darbari-Schulprojekt wenden Sie sich gern an jacquesmonteaux9@orange.fr.

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