Berlin-Neukölln. Ich sitze in einem fremden WG-Wohnzimmer. Der Wohnungsmarkt in Berlin kann einen in die Verzweiflung treiben. Allein die Tatsache, dass ich zu einem Casting eingeladen wurde, fühlt sich an wie fünf Richtige im Lotto. Jetzt ist die Frage, ob das letzte Kreuz auch noch an der richtigen Stelle sitzt. «Ich arbeite an einer freien Schule«, das macht in den meisten Fällen einen guten ersten Eindruck. Für viele Menschen sind die Begriffe frei und Schule ein Widerspruch in sich, aber es gibt eine große Sehnsucht nach Freiheit im Bildungswesen. Ich habe gelernt, erstmal vorsichtig zu sein, bevor ich mich mit Waldorf oute. Nicht jede:r teilt meine Begeisterung. Manche finden es ganz toll, bei anderen löst die Information einen kritischen Blick, wenn nicht sogar heftigen Widerstand aus. Die erste Frage von meiner Schwester, als ich meine Ausbildung zum Waldorferzieher begonnen hatte, war: «Setzt ihr euch auch mit den rechtsradikalen Aussagen von Rudolf Steiner auseinander?»
Was ist eine freie Schule
Freie Schule – darunter stellt sich wohl jede:r etwas anderes vor, denn jede:r hat ein eigenes Verständnis von Freiheit. Oder anders gesagt: Alle haben ihre eigene Erfahrung von Unfreiheit, auf die sich das jeweilige Bedürfnis nach Freiheit bezieht. Eine freie Schule definiert sich nach der Rechtsform. Es gibt staatliche und freie Schulträger. Eine Schule in freier Trägerschaft kann ein eigenes Konzept und einen eigenen Lehrplan haben, beides muss jedoch staatlich abgesegnet sein. Der Bund der Freien Waldorfschulen kontrolliert, bevor er eine Schule als Waldorfschule genehmigt, genau solche Konzepte. Aber ist Waldorf deswegen eine freie Schule, also das was man sich im alternativen Bildungsbürgertum darunter vorstellt? Selbstbestimmtes Lernen und kein Frontalunterricht, viel Bewegung und keine Sitzbänke, Lernbegleiter:innen und keine strengen Lehrer:innen?
Dies ist in der Regel nicht so. An der Schule, an der ich einige Jahre gearbeitet habe, gab es 36 Kinder in einer Klasse – ein fester Verbund für die nächsten zwölf Jahre, begleitet in den ersten acht Jahren von einer Klassenlehrperson. Für manche löst das bereits erste Beklemmungsgefühle aus. Freiheit bedeutet für viele Menschen, wählen zu können. Aber was, wenn man sich mit der Klasse oder der Lehrkraft nicht versteht? Acht oder zwölf Jahre sind eine lange Zeit. Viele Waldorfschulen sind meist einzügig und es gibt keine Parallelklassen, in die man wechseln könnte. In meiner eigenen Schulzeit rotierte meine Lehrer:innenschaft alle zwei Jahre. Bei manch einem Wechsel war ich froh, bei anderen traurig. Aber die Wahl hatte ich am Ende nicht. Der Wechsel machte die Unzufriedenheit nur erträglicher. An der Waldorfschule wird man im Vorfeld mit der Tatsache konfrontiert, dass man in vielem keine Wahl hat. Wer als Klassenlehrer:in eine Klasse dieser Größe organisieren muss, gibt klar den Ton an. Es handelt sich schließlich nicht um eine kleine Gruppe von Schüler:innen, auf deren individuelle Bedürfnisse jederzeit eingegangen werden kann. Die Lehrkraft braucht eine gewisse Führungsqualität. Rudolf Steiner spricht in diesem Zusammenhang von der «geliebten Autorität». Wieder so ein Widerspruch. Die Begriffe geliebt und Autorität scheinen unvereinbar. Und überhaupt: Wie passen Autorität, Liebe und Freiheit zusammen? Man könnte meinen, gar nicht. Um die Sache noch komplexer zu machen, sei darauf hingewiesen, dass eines der wichtigsten Werke Steiners den Titel Die Philosophie der Freiheit trägt.
Eine menschliche Frage
Freiheit – das ist kein einfacher Begriff wie zum Beispiel Taschentuch, bei dem wir alle das gleiche Bild im Kopf haben. Freiheit ist eine komplexe, philosophische Sache. Selbst wenn wir sagen: «Freiheit bedeutet, ich kann tun und lassen, was ich will», schleicht sich eine Frage durch die Hintertür: «Wie frei ist eigentlich mein Wollen?» In der Philosophie der Freiheit spricht Steiner von den Triebfedern des Willens. Aus welcher Quelle speist sich eigentlich mein Wollen? Am Ende ist die Frage nach Freiheit eine menschliche Frage, eine Frage, die sich ein Baum oder ein Fuchs nicht stellen muss. Es ist eine Frage, die sich durch die gesamte Menschheitsgeschichte zieht. Theologisch führt sie mich zur Genesis, zum ersten Moment der Freiheit: Isst der Mensch vom Baum der Erkenntnis oder nicht?
In meiner Themenreihe werde ich über die Anthroposophie und die Waldorfpädagogik sprechen. Ziemlich umfangreiche Themengebiete, mit der bereits ganze Bücherschränke gefüllt sind. Und das ist ja auch das Schöne daran: Es gibt sehr viele Perspektiven, die eingenommen werden können. Meine Perspektive ist die der Freiheit.
Das WG-Zimmer habe ich nicht bekommen. Als sich herausstellte, dass die freie Schule, an der ich gearbeitet habe, eine Waldorfschule war, löste es bei einer Bewohnerin Empörung aus. Die Begriffe Waldorf und freie Schule waren für sie unvereinbar. Sie selbst war ehemalige Waldorfschülerin und hat dort keine guten Erfahrungen gemacht. Solche Momente machen mich traurig. Einerseits weil ich es so gut nachvollziehen kann – Waldorf kann sehr unfrei und dogmatisch sein. Andererseits steckt für mich in der Anthroposophie etwas ganz Wertvolles, und das möchte ich mit Euch teilen.
Kommentare
Es sind noch keine Kommentare vorhanden.
Kommentar hinzufügen
Vielen Dank für Ihren Kommentar. Dieser wird nach Prüfung durch die Administrator:innen freigeschaltet.