«Ich muss gar nichts. Außer sterben!» Mein Sohn steht vor mir in Form eines rotglühenden brodelnden Vulkan und Blitze schießen aus seinen Augen. Vermutlich wird er gleich anschwellen, giftige Gase ausstoßen und schließlich tobend explodieren. Ich auch.
«Du musst sehr wohl», argumentiere ich nicht sehr kreativ, dafür lautstark. «Du musst dich in diese Gemeinschaft einbringen. Du musst deine Aufgaben erledigen. Du musst …» deine Socken in die Wäsche schmeißen, deine Schularbeiten erledigen, ab und zu duschen, den Tisch abräumen und abends schlafen gehen. Und auf keinen Fall sterben!
Wütendes Schweigen auf seiner Seite. Die Augen rollen und bleiben beinahe im Kopf stehen. Ein genervtes Stöhnen, der Marke «Mama, du bist so blöd! Und du verstehst überhaupt nix». Mein Mann, der mir zwar recht gibt, wagt eine Annäherung: «Wir meinen das nicht böse. Das verstehst du doch, oder?» Nein, tut er nicht. Will er nicht. Muss er auch nicht.
Niemals will ich streiten!
Zuerst ist da dieses winzige, winzige Wesen, irgendwie rein, beinahe heilig, dass einem die Hebamme in die Arme legt. Niemals werde ich dieses Kind anschreien. Niemals mit ihm streiten. Niemals die Beziehung zu ihm aufs Spiel setzen. Niemals schimpfen. Niemals auch nur die Stimme erheben. Niemals etwas tun, was es verletzen könnte. Das dachte ich, dort im Wochenbett, neben meinem Baby liegend, das friedlich schlief. Die Ärmchen neben den Kopf gebettet, die Händchen zu Fäusten gerollt.
Wegbrechende Vorsätze
Das Baby verliert nach und nach seinen Welpenschutz. Bei uns kamen Geschwisterchen nach und plötzlich wirkte das große Kind so riesig. Wenn ich heute Zweijährige sehe, denke ich, die sind total klein! Aber damals kam mir mein Zweijähriger schon vor wie ein halber Halbstarker. Der Welpenschutz bröckelt aber auch bei Kindern, die keine Geschwister oder nur große Geschwister haben früher oder später.
Und irgendwann brechen die Vorsätze. Einhergehend mit einem unglaublich schlechten Gewissen. Gibt es überhaupt eine Spezies auf diesem Planeten, die so oft und viel ein schlechtes Gewissen hat, wie menschliche Mütter?
Das schlechte Gewissen
Die autoritäre Erziehung des letzten Jahrhunderts ist Vergangenheit. Früher war: «Solange du deine Füße unter meinen Tisch streckst, …» und «Du musst gehorchen.» Und das wurde nötigenfalls mit dem Stock durchgesetzt. Oder, ganz miese Tour: «Warte nur, bis der Vater heimkommt». Heute wollen wir so etwas nicht mehr. Keine brutale Autorität, keine Prügel, kein Oben-Unten, sondern Verständnis und Augenhöhe, das wünschen wir uns. Am liebsten wären wir alle Freunde, absolutes Einvernehmen, Harmonie und gegenseitiger Respekt. Alle sollen glücklich sein. Immer. Irgendwie gelingt uns das nicht, oder? Ich verfolge meinen kleinen Vulkanausbruch in sein Zimmer, er liegt im Hochbett, tief unter seine Decke gekuschelt, ich denke «da kommt er nie wieder raus»! Und wenn ich ihn am Fuß kitzle? Dann knurrt er, wie ein tollwütiger Hund. Na gut. Er ist sauer auf mich. Eigentlich bin ich auch sauer auf ihn. Ich liebe ihn nur auch so sehr und möchte Frieden mit ihm. Und glücklich ist auch anders! Und dann das geballte schlechte Gewissen. «Ich wollte dich nicht schimpfen», murmle ich, wie der Sünder in Person.
Knurren. Also halte ich die Disharmonie eben aus, was bleibt mir übrig? Das schlechte Gewissen liegt wie ein Klumpen in meinem Magen. Tausend «Hättes» rotieren durch meinen Kopf. Hätte ich nicht geschimpft. Wäre ich nicht so streng gewesen …
«Wir streiten, weil wir Lust dazu haben, das macht Spaß», hat mein Großer einmal zu mir gesagt, das fällt mir gerade ein. Ich stocke. Geht es am Ende gar nicht darum, ständige Harmonie zu leben? Ist es vielleicht gar nicht mein Job, mich perfekt zu verhalten und niemals die Stimme zu erheben?
Unbemerkt: Neues Stellenprofil
Ein Baby zu versorgen hat mit Hingabe und Liebe und verdammt viel Geduld zu tun. Ich brauchte pflegerische Fähigkeiten, ich konnte singen zur Beruhigung, es herumtragen und einfach da sein. Wenn es weinte, durfte ich reagieren und etwas dagegen unternehmen. Aber das alles ist jetzt nicht mehr gefragt. Jedenfalls nicht so. «Eigentlich wird man etwa zehnmal am Tag für irgendwas angebrüllt oder verflucht», sagte eine Freundin mit gleichalten Kindern zu mir. Einmal, weil man an die Hausaufgaben erinnert oder ans Üben des Instruments oder ans Zimmeraufräumen. Dann, weil man das Falsche gekocht hat und schließlich, weil man einfach eine voll peinliche und blöde Mutter ist. Und vielleicht ist genau das jetzt meine Aufgabe, mein Stellenprofil. Ob ich das peinlich und blöd finde – oder nicht.
Mein Kind muss mich nicht verstehen
Ich bin nicht sein Freund – sondern seine Mutter. Freunde hat es schon eigene! Das ist schwer – aber das war das viele Tragen auch. Die Stärke kommt von selbst, wenn man genug trainiert und sich nicht ständig von seinem schlechten Gewissen schwächen lässt. Unsere Kinder helfen uns beim Training, ist doch total fürsorglich von ihnen, nicht?
«Mama? Ich hab meine Stifte sortiert, schau mal.» Der kleine Vulkan ist wieder auf normale Temperatur gesunken. Er zeigt mir eifrig seine Stifte. Ich darf ihm über den Kopf streichen und er drückt mich kurz ganz fest. Ein halbes Grinsen. Ob er seine Socken aufräumt, übt und duscht? Nicht an diesem Tag, dafür aber am nächsten. Von selbst. Gleich ganz früh am Morgen.
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