Ausgabe 06/25

Ich fühl mich weiß ich nicht

Dorothee Raiser


«Ganz schön creepy», sagt einer mit Blick in die Dunkelheit, die sich hier auftut, lang vor dem Läuten zur ersten Unterrichtsstunde. Es ist früh am Morgen. Locker verteilt sitzen sie im Wald, einen Schreibblock auf den Knien. 30 Minuten sind lang. Es ist eine inklusive Aktion, zusammen mit der Nachbarschule. Zuvor ausgegebene Satzanfänge regen zum Wahrnehmen an: «Gerade jetzt …» – so schreiben sie sich ins erste Morgenlicht.

Werkstatt riecht nach Schmieröl, fühlt sich sägerau an. Im rhythmischen Hämmern ist der Blick auf das Werkstück gerichtet. Anders die Schreibwerkstatt an der Magdalenenschule, dem sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentrum (SBBZ) mit Waldorfschullehrplan in Winterbach-Engelberg. Hier liegen großformatige Papiere am Boden, daneben bunte Filzstifte, manchmal Zeitschriften und Zeitungen, Schere und Kleber. Eine Einladung zum Schreiben: frei, drauflos, ohne Skrupel. Diese Haltung des Freewriting hat ihren Ursprung in den USA. Es geht darum, ins Schreiben zu kommen. Einfach anfangen, schöpferisch werden, weg vom kontrolliert schulischen hin zum ganz eigenen, persönlichen Ausdruck.

Ordentliches Fach


Schreibwerkstatt bedeutet Unterricht für die Schüler:innen der achten Klasse und ist nun schon im dritten Jahr nicht mehr nur zeitweiliges Projekt, vielmehr ordentliches Fach. Ordentlich? Erst finden sie es blöd, lautstark, wissen nicht, was das soll, lassen sich dann doch darauf ein. Es braucht nur eine Stimme, um alle umzustimmen. In diesem Fall für den Keller tief unter der Schule, ehemals Lager für das in der Brauerei benötigte Eis. Im Dunkel dauert es, bis sie ins Schreiben kommen. Irgendwann ist es ganz still. Sie schreiben. Danach sind sie begeistert: «Das war mega!» Die entstandenen Texte sind kurz, eindringlich.
So etwas wollen sie wieder machen. Sie wünschen sich offenbar authentische Erlebnisse. Es entsteht eine Liste: Orte, an denen wir schreiben wollen. Listen bedeuten einen niederschwelligen Einstieg ins Schreiben. Listen machen Spaß. An erster Stelle steht der Dönerladen. Es entspinnt sich ein Streit, welcher der beste sei …

Jede Stunde beginnt mit dem gleichen Ritual. Ich. Hier. Jetzt. Fünf Minuten schreiben, was durch den Kopf geht. Schreiben. Oder auch nur kringeln und stricheln. In ein kleines Notizheft, super privat. Niemand wird es je lesen. Es muss auch nicht vorgelesen werden. Manche füllen Seite um Seite, sagen: «Ich kann meine Sorgen loslassen» und «Ich kann wieder runter kommen, wenn ich geärgert werde». Manche schreiben jedes Mal nur ein Wort. Eine braucht nach ein paar Wochen ein zweites Heftchen, ein anderer ist stolz, dass er mit zwei Seiten im Halbjahr auskommt. Ich. Hier. Jetzt. Manchmal ist da nur das gleichförmige Kratzen der Stifte auf Papier. Es ist Raum für Gedanken und Stimmungen, es ist geschützter Raum für sich selbst. Wie die Schreibwerkstatt überhaupt, wo die Daunenjacke auch mal an- und die Kapuze aufbleibt – weil das gerade so passt.

Schreiben entlastet


Warum Kreatives Schreiben an der Schule? Weil es etwas sein kann, das wohl tut in einer Welt, die ängstigt, in der Sicherheiten wegbrechen und Bedrohung spürbar wird. Schreiben in seiner entlastenden Funktion. Schreiben, weil es zu einem positiven Selbstbild und so zu einem höheren Selbstbewusstsein beitragen kann. Schreibwerkstatt als ein Angebot auf der Suche danach, wie Schule sein könnte, angesichts zunehmender Schulunlust und Schulverweigerung, Schreibwerkstatt als ein Freiraum, um sich auszudrücken und um zu merken, dass man etwas zu sagen hat.

Die Themen ergeben sich. Es ist ein Herantasten, ein Reagieren auch auf das, was gerade aktuell ist, bei den Jugendlichen und in der Welt. So entstehen Sequenzen zu Lieblingswörtern, zu Mut und Krieg, zu Rassismus und Weihnachten und zu Fußball. Natürlich.

Die Methoden sind vielfältig: Collagen und Gedichtformen, Dialoge und Cluster. Besonders eindringlich gerät eine Einheit zur Blackout Poetry. Vom Autor Austin Kleon persönlich durch Videoanimation eingeführt, wählen die Jugendlichen Zeitungsartikel, setzen sich zunächst schwärzend und kritzelnd mit aktuellen Nachrichten auseinander und kommen so, anders als gewohnt, in lebhafte Diskussion über die Inhalte.

Manchmal geschieht Anregung in der Auseinandersetzung mit anderen Künsten und so wird der Besuch einer Fotoausstellung zu einer Lesung eigener Texte. Und trotz Nölens «Ist nicht dein Ernst, dafür sind wir nach Stuttgart gefahren» lassen sich alle darauf ein, schreiben im gedämpften Ambiente hinter der schwarz verklebten Eingangstür oder unter den «verwehten Buchstaben» der Künstlerin Chiharu Shiota, wie eine Schülerin es ausdrückt.

Manchmal geschieht Inspiration über Text und Leben bekannter Autor:innen, etwa Herta Müller. Dass jemand, und mit Nobelpreis, Gedichte aus Schnipseln macht, finden sie interessant. Manchmal passen fremde Worte gut. Wenn die eigenen fehlen oder wenn da keine Lust ist, in sich zu kramen. Manchmal passt wählen, schneiden, hin- und herschieben statt schreiben und doch drückt der zusammengeklebte Text häufig wieder das Eigene aus.

Irgendwann lieben die meisten die dicken Filzstifte und die rauen Papierbögen. Zehn Ich-bin-Sätze sind gefragt als Antwort auf eine Bildcollage. Eine Schülerin schreibt voller Begeisterung einen langen Fließtext. Ein Schüler sitzt nur da. Schreibt nicht. Verdreht die Augen. Seufzt. Stöhnt. Stört. Spricht vor sich hin. Hat Hunger. Zum Ende der Zeit haut er einen Satz raus. Genau: Haut! Fertig! Mehr hat er nicht zu sagen. «Was wollen Sie, ich hab doch geschrieben!»

«Schreiben ist Schule. Schule ist Schule. Schule ist Scheiße», bringt es ein anderer zu Papier. Puh! So ist es. Da tröstet nicht Gertrude Stein, auch nicht die Alliteration. Eigentlich müsste es freiwillig sein.

Schreiben sie irgendwann besser, schöner, mehr? Nicht unbedingt, aber ein neues Selbstbewusstsein blitzt bei dem Einen, der Anderen auf. Eines Mittwochs kommen sie aufgeregt am Morgen, zwei Mädchen, die ihre Gedichte brauchen für den Eurythmieunterricht. Nein, nicht Rilke, nicht Hesse dieses Jahr! Sie wollen die eigenen Texte einstudieren.

Schreibwerkstatt ist ein Angebot. Es lautet: schreiben und durchstreichen, zerknüllen und überarbeiten, zerreißen und zur großen Not sogar verbrennen. Alles gehabt. Schreibwerkstatt heißt, es muss nicht perfekt, es muss nicht vorzeigbar sein. «Das hätt ich nie so geschrieben, wenn das meinen Eltern lesen können», lehnt einer die Ausstellung seines Textes an der Monatsfeier ab.

Schreibwerkstatt. Kein Schmieröl, aber ein Raum, zu erleben, zu formulieren und sich darin zu zeigen. Wenn es sein muss, vor sechs im Wald: «Ich höre meinen Atem und ich spüre eine leichte Angst. Es wird nur sehr langsam hell. Und wie der Frost in meinen Körper dringt. Ein komisches Vogelgeräusch. Ich spüre die Stille. Man kann in Ruhe nachdenken und die Augen schließen für einen kurzen Moment, der kostbar erscheint.»

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