Ausgabe 03/25

«Ich kam hoch motiviert, aber unwissend»

Matthias Nikolaus Eckstaedt


Meine Einsatzstelle Corporación Educativa y Social Waldorf (CES Waldorf) liegt im Süden von Bogotá, einem Viertel mit vielen Problemen. In verschiedenen Programmen fördert CES Waldorf die ganzheitliche Entwicklung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen und hilft ihnen damit bei der Bewältigung des Alltags. Das Angebot der CES Waldorf richtet sich an die Gemeinschaft im Viertel Sierra Morena und umfasst unter anderem einen Waldorfkindergarten, Erwachsenenbildung und das Programma de apoyo escolar y social, also das Programm schulischer und sozialer Unterstützung (PAES), das Herzstück der CES Waldorf. Kinder und Jugendliche können täglich an künstlerischen und handwerklichen Workshops teilnehmen, die Bibliothek für Hausaufgabenhilfe besuchen und im Chor und Orchester musizieren. Im Moment kommen über 120 Schüler:innen im Alter von sechs bis 18 Jahren regelmäßig in die Corporación.

Während ich diesen Artikel schreibe, sitze ich an einem großen Tisch im Büro der CES Waldorf. Durch die Fenster höre ich Kinder lachen und schreien. Leise schallt Musik durch den Raum, Salsa. Hier zu sein, macht mich glücklich. Heute Morgen bin ich wie jeden Tag früh um sechs Uhr zur Arbeit gefahren. Ich habe angefangen Fahrrad zu fahren, weil das im chaotischen kolumbianischen Straßenverkehr günstiger und viel schneller ist als mit dem Bus. Jedoch ist das ein nicht ganz ungefährliches Abenteuer. Ich muss mich durch Motorräder und Kleinlaster, die schwarze Abgase ausstoßen, schlängeln. Mittlerweile habe ich mich an den dichten Verkehr gewöhnt und bewege mich schon sicherer durch die Blechlawine. Jeden Tag komme ich an vielen Menschen vorbei, die auf dem Weg zu ihrer Arbeit an den Haltestellen gestresst Busse heranwinken oder auf der Straße Gebäck, Kaffee und Obst verkaufen. Zum Schluss schultere ich mein Fahrrad und steige noch ein paar Treppen hoch, bis ich bei meiner Einsatzstelle bin. Das bunt bemalte Gebäude der CES Waldorf, von den Bewohnern der Sierra Morena liebevoll Casa de Colores (Haus der Farben) genannt, fällt inmitten der unverputzten, mit Wellblech gedeckten Reihenhäuser auf. Es liegt weit oben am Hang, mit Blick über die Hochebene von Bogotá. Morgens sehe ich auf eine graue Suppe aus Abgasen, Beton und Wellblech hinunter, nachmittags auf ein im Glanz der brennenden Tropensonne liegendes Häusermeer. An klaren Tagen kann man bis ans andere Ende der Stadt sehen, wo sich ähnlich arme Viertel die Berge im Osten hinaufziehen.

Im Gegensatz zu der Aussicht, die ich schon jetzt mit dem Gefühl von Heimat verbinde, steht der harte Alltag der Menschen, die hier leben. Sechs Jahrzehnte der Gewalt in Kolumbien haben ihre Spuren hinterlassen. Seit 1964 bekriegen sich hier die bewaffneten Guerilla FARC, staatliche Streitkräfte und organisierte Paramilitärs. Wer am meisten darunter leidet, ist die kolumbianische Bevölkerung, die zwischen die Fronten gerät. Obwohl die Gewalt in den letzten zwanzig Jahren abgenommen hat, machen vertriebene Kleinbauern den Hauptteil der Bevölkerung im armen Süden Bogotás aus. Mit zunehmender Verarmung und politischer Repression im Nachbarland Venezuela wächst auch die Zahl der geflohenen Venezolaner:innen schnell an. Der rasche Zuzug trägt zur Entstehung sehr dichter, provisorisch wirkender Viertel an den Hängen rund um die Hochebene bei. Mit fast zwölf Millionen registrierten Einwohner:innen hat sich die Bevölkerung seit dem Jahr 2000 verdoppelt, seit 1964 verachtfacht. Die hohe Bevölkerungsdichte, der große Niedriglohnsektor und die anhaltende Wohnungsnot führen zu Armut, einer hohen Kriminalitätsrate und Elend. Durch die Sozialarbeit der CES Waldorf erfahre ich tagtäglich, dass Teenagerschwangerschaften, Drogenabhängigkeit, Bandenkriminalität und häusliche Gewalt hier normal sind. Unweit der Einrichtung hat sich in den letzten Jahren eine sogenannte Invasión gebildet, ein Slum aus Wellblechhütten, die sich dicht gedrängt an den Hang ducken. Viele Kinder, die täglich in die Casa de Colores kommen, stammen von dort. Für jemanden wie mich, den man sofort als Europäer erkennt, ist es zu gefährlich dort hinzugehen, weswegen ich nur sehr selten außerhalb der Arbeitsstelle unterwegs bin und wenn, dann nie allein.

Mein Arbeitstag beginnt mit dem Morgenkreis. Wir versammeln uns alle, sprechen und klatschen einen Rhythmus und singen einen Kanon. Nachdem der Tagesablauf besprochen wurde, zerstreuen wir uns und gehen unseren Arbeiten nach. Ich darf aktuell sowohl in der Küche als auch im PAES und im Büro mitarbeiten. Ich begleite den eigenen Podcast der Gruppe der Jugendlichen im PAES und den Musikkurs, in dem wir gerade ein kleines Musical einstudieren. In unserem Podcast Parchando en Sierra Morena interviewen die Jugendlichen Mitarbeitende und geben einen Einblick in den Alltag der CES Waldorf.

Nach der Arbeit schwinge ich mich wieder auf mein Rad und rausche den Berg herunter. So wie auf dem Hinweg meine Waden glühten, glühen jetzt die Bremsen. Knapp drei Monate bin ich jetzt schon hier, die Dinge sind vertrauter geworden und die Arbeit wird nie langweilig. Alle sieben Wochen beginnt eine neue Epoche im PAES und die alte wird mit der Cierre de Epoca, einer Art Monatsfeier, abgeschlossen. Die Gruppen der Kinder rotieren dann in einen anderen Kurs weiter, sodass es stets abwechslungsreich bleibt. Wenn sich mein Spanisch weiter schnell verbessert, kann ich perspektivisch im neuen Jahr selbst meinen eigenen Kurs anbieten, sei es Sport, etwas Musikalisches oder Englisch. Fremdsprachen sind beliebt bei den Jugendlichen, da sie in den kolumbianischen Schulen oft nicht gut unterrichtet werden, ihnen aber eine Perspektive zur Welt öffnen, die über den Kontext hinausblickt, in welchem sie aufgewachsen sind. Vorherige Freiwillige boten oft einen Deutschkurs an, da sich junge Kolumbianer:innen für einen Incoming-Freiwilligendienst nach Deutschland bewerben können, wenn sie das Niveau A2 in Deutsch erreichen. Schon einige motivierte Jugendliche aus Sierra Morena haben das in den letzten 15 Jahren geschafft.

Ich erinnere mich noch gut an den Moment, als ich vor drei Monaten zum ersten Mal einen Fuß auf kolumbianischen Boden setzte. Ich wusste nicht, welche Menschen mich abholen, wo ich die nächsten zwölf Monate leben und welche Arbeit mich erwarten würde. Ich kam hoch motiviert, aber unwissend hier her, bereit eine neue Kultur zu erleben und eine neue Sprache zu lernen. Die ersten drei Wochen hier waren so reich an neuen Erfahrungen, dass ich überwältigt von Eindrücken durch diese Zeit rauschte und nicht genug davon bekommen konnte, dieses fremde Leben mit allen Sinnen aufzusaugen. Es war eine Zeit der Umstrukturierung, eine Phase des Lernens. Ich schlief zehn Stunden jede Nacht, um das Erlebte zu verarbeiten und tagsüber befand ich mich im Höhenflug.

Ich lernte neue Leute kennen, die gute Freunde wurden und mir beibrachten, wie die Stadt tickt. Mit der Zeit lernte ich mich zurechtzufinden und anzupassen und heute fühle ich mich hier schon richtig zu Hause. Dabei spreche ich nicht von einem Ort, denn der Ort meines Zuhauses wird immer das Haus meiner Eltern bleiben. Ich spreche von dem Gefühl, hierherzugehören. Wenn ich abends nach Hause komme und schon von draußen die Musik höre, zu der meine Gastmutter durch das Wohnzimmer tanzt, fühle ich mich wohl. Wir singen und lachen zusammen und sitzen manchmal noch bis spät abends in einer Bar um die Ecke und spielen Bolirana, ein typisch kolumbianisches Spiel. Es freut mich, in einer Gastfamilie zu leben, weil ich durch sie einfacher in die Kultur hier eintauchen kann.

An den Wochenenden bin ich meistens mit Freunden in der Stadt unterwegs. Wenn aber ein langes Wochenende ansteht, versuch ich aus dieser hektischen Metropole herauszukommen und mehr von Kolumbien zu sehen. Ich habe andere Einsatzstellen besucht, stand in der brennend heißen Tatacoa-Wüste und unter den höchsten Palmen der Welt im Valle de Cocora, ging bei Starkregen durch den Urwald und sah beim Paragleiten auf die Berge und Kolumbiens zweitgrößte Stadt Medellín herab. Das alles in den ersten drei Monaten. Was wird noch kommen? Dieser Freiwilligendienst übertrifft schon jetzt meine Erwartungen. Darum lebe ich mit Freude in jeden neuen Tag hinein.

Leider holt mich der Ernst der Lage in Sierra Morena immer wieder zurück in die harte Realität. Die Menschen dort benötigen dringend Unterstützung und es ist nicht klar, ob die CES Waldorf diese weiterhin bieten kann. Sie finanziert sich fast ausschließlich durch Spenden aus Deutschland, von denen etwa die Hälfte im letzten Jahr wegbrach. Lehrer:innen mussten entlassen werden und das Angebot an Workshops musste stark eingeschränkt werden. Fest angestellte Sozialarbeiter:innen gibt es gar nicht mehr. Um CES Waldorf in dieser schwierigen Situation zu unterstützen, hat sich eine Initiative aus ehemaligen Freiwilligen gebildet, bei der auch ich mitwirke. Unsere Spendenprojekte und nähere Informationen finden Sie auf unserer Webseite (casadecolores.de), über welche Sie auch gerne mit uns in Kontakt treten können. Jede Spende – ob groß oder klein – hilft, die Zukunft der Kinder von Sierra Morena zu sichern.

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