Wir könnten es uns sehr einfach machen: Musikalische Formen, wie beispielsweise die Sonatenhauptsatzform, die Liedform oder die Rondoform werden mit Inhalt – dem Klang – gefüllt. Damit wäre alles gesagt. Während die musikalische Architektur die Formgestalt bildet, ist das klingende Element der eigentliche Inhalt der Musik. Aber so einfach ist es nicht. Die Frage stellt sich, ob auch das klingende Element letztlich nicht dem Form-Element zuzuordnen ist. Der Inhalt wäre – so wie es Rudolf Steiner im Toneurythmiekurs ausspricht – demnach dasjenige, das «zwischen den Tönen» lebt. Aber was lebt zwischen den Tönen? Was lebt innerhalb der klingenden Töne eines Intervalls?
Im praktischen Leben, in der Kunst und in der Pädagogik sind wir immer einem Spannungsverhältnis zwischen Form und Inhalt ausgesetzt. Überformung führt leicht zu Erstarrung und künstlerischer Unbeweglichkeit, während eine überwertige Beanspruchung des Inhalts zu Chaos und Erschöpfung führen kann. Es geht also darum, ein harmonisches Verhältnis zwischen Form und Inhalt als Ideal anzustreben und in das tägliche Üben zu integrieren.
Überformung
Ich wage die These auszusprechen, dass in der gegenwärtigen Musikpädagogik eine Überformung auf vielen Ebenen – vor allem in der Interpretationstradition – gepflegt wird und der eigentlichen Frage nach dem Wesen der Musik nur noch mit wenig Bewusstsein begegnet wird. Wird beispielsweise beim melodischen Element ein zu starker interpretatorischer Fokus auf Phrasierung, Artikulation, der freie Umgang mit dem Tempo (Agogik), Dynamik, Aussprache des Textes oder die richtige Atem-Hol-Stelle gelegt, dann wird die natürliche Melodie-Fließbewegung zugunsten der erlernten Interpretationserwartungen stark eingegrenzt. Ein Kind, das ganz versunken ins Singen ist, stellt sich nicht die Frage, wo es atmen darf – es atmet letztlich immer an der richtigen Stelle. Auch kann eine zu stark konsonantisch geprägte und auf Textverständlichkeit ausgerichtete Singweise dazu führen, dass kein Melodiebogen entstehen kann. Während eine vokalische Singweise den Melodiefluss fördert (horizontale Bewegung), zergliedert das Konsonantische den Melos, also die Binnenenergie der Melodie (vertikale Bewegung). Werden musikalische Elemente wie Klang, Melodiebögen oder harmonische Spannungsverläufe lediglich auf Grundlage von erlernten Interpretationsvorstellungen gestaltet und erübt, so bleibt das Musikerlebnis ein auf die Vergangenheit gerichtetes. Dies führt zu einer musealen Musikkultur, die wir in einer zeitgemäßen Musikpädagogik nicht unreflektiert fortführen sollten.
Rudolf Steiner regt im oben genannten Toneurythmiekurs an, Musik nicht «als Ausdruck von irgendetwas» zu interpretieren, sondern den «Fluss des Melos» in den Mittelpunkt des künstlerischen Handelns zu nehmen. Das musikwissenschaftliche Wissen um traditionelle Aufführungspraktiken hat dazu geführt, dass klare Bewertungskriterien im Hinblick auf die richtige Interpretation von Musik formuliert wurden. Diese Tatsache hat Auswirkungen auf die Musikpädagogik, denn die Musiklehrenden müssen sich diesen Bewertungskriterien beugen und richten ihren Unterricht dementsprechend aus. Durch den Zwang, die richtige und seriöse Interpretation erfüllen zu müssen, bleibt das Bewusstsein auf das Alte, das bereits Vergangene fokussiert. Die Aufmerksamkeit beim Musizieren auf den Gegenwartsmoment zu richten – auf dasjenige, das unmittelbar durch den künstlerischen Gestaltungswillen der beteiligten Menschen entstehen kann – also das eigentlich Inhaltliche in der Musik – wird verhindert. Die zu erfüllenden Bewertungsmaßstäbe in unserer Musikkultur und die damit zusammenhängende Erwartungshaltung im Gesellschaftlichen führen zu einem hohen Anpassungsdruck, der den lebendigen Musikvollzug nicht fördert, sondern den Konformitätsgedanken in den Mittelpunkt rückt.
Kraft der Natürlichkeit
Im Gegensatz zur gesprochenen Sprache fehlen in der Musik die konkreten Begrifflichkeiten. Dennoch spielen musikalische Elemente wie Melodie, Tempo, Dynamik, Rhythmus, Agogik und Intonation auch in der begrifflichen Sprache eine ausschlaggebende Rolle. Im Laufe unserer Biografie verfeinern wir instinktiv unsere individuellen musikalischen Sprachnuancen und benutzen diese im Alltag auf natürliche Weise. Insbesondere in einem anregenden Dialoggeschehen wird erlebbar, auf wie viele musikalische Gestaltungselemente wir auf natürliche Weise zurückgreifen können. Auch können wir unseren Kindern beispielsweise ein Märchen auf musikalische Weise vorlesen, ohne dass im Text Interpretationsangaben zur Dynamik oder zum Tempo angegeben sind. Wir vertrauen auf unsere Erfahrung und unser Gefühl.
Existenziell wird es, wenn wir einen Menschen, den wir lieben, nach einem schweren Konflikt aus tiefstem Herzen um Verzeihung bitten – da sprechen wir dann um unser Leben. Singen oder spielen wir in der Musik auch um unser Leben oder setzen wir unsere Lebenskraft dafür ein, die tradierten Interpretationserwartungen zu erfüllen? Die musikalischen Grundelemente, die wir in der gesprochenen Sprache anwenden, bringen die Kinder auch beim Singen als natürliche Gestaltungskraft mit ein und sie sollten auch in der Musikpädagogik beachtet und geachtet werden. Genauso wie eine Gedicht-Rezitation durch Überinterpretation künstlich werden kann, wird das von den Kindern mitgebrachte natürliche Melos durch interpretatorische Überformung zu einer bloßen inhaltslosen Tonabfolge. Unabhängig davon, ob wir von Melodie, Harmonie oder Rhythmus sprechen, gehe ich davon aus, dass es sich hierbei nicht um klar definierte Begriffe handelt, sondern dass wir es bei der Musik – genauso wie im Leben – stets mit einem dynamischen und höchst ambivalenten Element zu tun haben. Die flächendeckende Eindeutigkeit, mit der Musik gegenwärtig gestaltet und interpretiert wird, kann uns daran hindern, die Grundmusikalität – also das Empfinden für Melodie, Harmonie und Rhythmus –, die die Kinder und Jugendlichen mit auf die Erde bringen, überhaupt wahrzunehmen und im Unterricht lebendig werden zu lassen. Künstlerische Gestaltungskraft bedeutet, offen für die eigenen Lebensgestaltungskräfte im bewusst erlebten Gegenwartsmoment zu sein, aus dem heraus dann Neuschöpfung, das in die Zukunft führende Handeln, entstehen kann. Das ist ein anspruchsvoller Übungsweg, der Unvoreingenommenheit und das Interesse am Neuen – also die Fähigkeit des Staunens – voraussetzt.
Ich war jedes Jahr aufs Neue verblüfft, wie sich meine Schüler:innen nach den Sommerferien verändert hatten und versuchte mich daran zu erinnern, welches Bild von den jungen Menschen noch vor sechs Wochen in mir lebte. Mit welch enormer Lebensgestaltungskraft müssen die jungen Menschen ihr Leben gelebt haben, um zwischen den beiden Lebens-Intervallpunkten – dem letzten Schultag des alten und dem ersten Tag des neuen Schuljahres – eine solche Transformation zu durchleben? Welche Phantasie- und Willenstätigkeit hat dazu geführt, die beiden Lebens-Intervallpunkte in einer solchen Qualität erstrahlen zu lassen?
Das Eigenschöpferische im Jetzt
In diesem Sinne gehe ich davon aus, dass die klingenden Töne ihre lebensbildende Kraft in der Musik erst dann entfalten können, wenn sie mit «Lebens-Inhalt» – mit Gestaltungskraft innerhalb der Intervallverhältnisse – durch den musizierenden Menschen gefüllt werden (wollen). Klang ist Form und wird erst dann zum Inhalt, wenn er durch beseelte Lebenskraft verlebendigt wird.
Die Beziehungsqualität zwischen dem praktischen Handeln und den eigenen inneren Entwicklungsmotiven ist bei Kindern noch stark ausgeprägt und die Fähigkeit, sich ganz mit dem Jetzt verbinden zu wollen, muss auch wieder in der Musikpädagogik berücksichtigt werden. Musizieren ist ein Ereignis, das den Gegenwartsmoment kultivieren muss, um einen künstlerischen Lebensgestaltungsprozess impulsieren zu können, der nicht geplant werden kann – weil er unverfügbar ist – der jedoch entstehen kann, wenn das künstlerische Tun sich auf das Zukünftige, das Werden-Wollende – also das Eigenschöpferische – fokussiert.
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articolo molto interessante
Grazie!
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