Ausgabe 06/24

In Lebensmitteln steckt Leben drin

Miriam Margareta Gimm
Nicola Tams


Vor 50 Jahren stand rechnerisch jeder Person weltweit ein halber Hektar zum Anbau von Nahrungsmitteln zur Verfügung, heute ist es ein viertel Hektar und 2050 werden es nur noch tausend Quadratmeter sein. Wo einst Getreide und Kartoffeln wuchsen, stehen heute Doppelhaushälften und Supermärkte. Auf der verbleibenden Fläche wird mit Pflanzenschutzmitteln, Mineraldünger und Monokulturen immer dichter und mehr angebaut. Das geht auf Kosten des Bodens, seine natürlichen Funktionen sind so stark gestört, dass sie Starkregen und Stürmen nicht standhalten. Etwa 970 Millionen Tonnen fruchtbaren Bodens gehen in der EU jedes Jahr durch Erosion verloren – das entspricht der Menge Erde, um die gesamte Stadt Berlin einen Meter anzuheben.

In einem Landwirtschaftssystem, welches größtenteils auf kurzfristige Erträge ausgelegt ist und in dem langfristige Auswirkungen zu wenig Beachtung finden, ist es schwer, ein Umdenken zu erreichen. Neben dem Umgang mit dem Boden zeigt sich das auch im Umgang mit den Pflanzen, die wir kultivieren und die in einer Wechselwirkung zum Boden stehen. Die meisten Kulturpflanzen, die heute angebaut werden, stammen aus einer Züchtung, in der es um maximalen Gewinn geht. Ein gesundes Zusammenspiel zwischen Umwelt und Anbau wird dabei außer Acht gelassen.

In der Nähe von Bremen züchten Florian Jordan und Ulrike Berendt auf leichten Böden Salat, Tomaten, Schlangengurken, Chinakohl, Spitzkohl, Möhren, Rote Bete und Pastinaken. Als wir ihn besuchen, führt Jordan uns über das weitläufige Terrain. Er hat sich unter anderem auf die Tomatenzucht spezialisiert und entwickelt Tomatensorten, die besonders resistent gegen bestimmten Pilzbefall sind. Dabei wird jede Pflanze genau beobachtet, dokumentiert und verkostet. Von allen angebauten Tomaten werden nur einzelne, nämlich die mit den gewünschten Fähigkeiten, zur Züchtung genutzt, also gekreuzt und vermehrt. Das ist ein mehrjähriger, sehr aufwändiger Prozess, in dem Florian die Pflanzen durch seine Beobachtungen intensiv kennenlernt und sie in die gewünschte Richtung entwickelt. Ist eine Pflanze «fertig» gezüchtet, wird sie auch auf anderen Betrieben vermehrt und dann vorwiegend über den Bio-Onlinehändler Bingenheimer Saatgut verkauft.

Klassische Züchtungsmethoden wie Kreuzung und Selektion werden in der biodynamischen Züchtung genauso angewandt wie in anderen Züchtungsprozessen. Passende Früchte werden von Florian selektiert, entsamt und die Samen im nächsten Jahr neu ausgesät und auf ihre Eigenschaften überprüft. Dann wird wieder gekreuzt, die besten werden rausgesucht. «Die Sorge um die Pflanzen und das Kümmern ist ein bisschen, wie Kinder aufwachsen zu sehen», sagt Florian lächelnd. Die Pflanzen entwickeln sich jedes Jahr weiter, prägen bestimmte Eigenschaften aus oder eben nicht. Florian hat die Pflanzen genau im Blick, macht sich Aufzeichnungen zu den verschiedenen Merkmalen und selektiert nach seinen Vorstellungen.

Florian und Ulrike experimentieren außerdem an einer Mischung von verschiedenen Salatsorten, die gut mit Schwierigkeiten wie Trockenheit, Krankheiten oder Unkraut umgehen können. Es geht hier also nicht darum, eine neue Sorte mit bestimmten Eigenschaften zu züchten, sondern herauszufinden, welche Sorten, zusammen angebaut, besonders gut funktionieren. Die Diversität der Sorten erhöht die Resilienz des gesamten Anbaus, da die unterschiedlichen Sorten mit unterschiedlichen Gegebenheiten umgehen können. So wird einem Ernteausfall vorgebeugt, da einige Sorten immer besser mit einer Problematik gedeihen als andere.

«Die Züchtung gezielt für den ökologischen Anbau ist so wichtig, weil Sorten im konventionellen Bereich für die Bedingungen im konventionellen Anbau gezüchtet werden. Die Pflanzen im Bio-Bereich müssen dagegen gut mit Unkraut und Krankheiten umgehen können und auch mit wenig Wasser und wenig Dünger. Der ökologische Anbau braucht also Sorten, die besonders resilient sind», meint Florian. «Wir achten zudem mehr auf Vitalität, Aroma und Bekömmlichkeit anstatt auf Masse. Wächst eine Pflanze schnell und wird groß, leidet darunter immer der Geschmack, da weniger Aromastoffe gebildet werden können. Deswegen werden bei uns alle Pflanzen im Züchtungsprozess auch verkostet. Alle Sorten werden bei uns samenfest gezüchtet, das bedeutet, dass fruchtbare Pflanzen ihre guten Eigenschaften weitervererben können und die natürliche Integrität der Pflanze respektiert wird.»

Trotz der vielen engagierten Züchter:innen gibt es leider viel zu wenig samenfeste Sorten und auch im Bio-Bereich wird oft mit Hybridsaatgut gearbeitet. Hybridsamen sind Samen, die aus Kreuzungen gewonnen wurden. Über mehrere Generationen werden die Elternpflanzen mit sich selbst befruchtet und damit spezielle gewünschte Eigenschaften der Sorten herausgearbeitet. Da Hybridsaatgut immer nur von hochspezialisierten Züchter:innen, also von Konzernen, hergestellt werden kann, trägt die Entwicklung von samenfesten Sorten einen großen Teil zur Ernährungssouveränität bei. Die Züchtung von samenfesten Sorten allerdings wirft so gut wie kein Geld ab und Saatgutzüchter:innen sind im Bio-Bereich auf Förderung und Spenden angewiesen.

Heute sind ein Großteil aller Pflanzen, die in der Landwirtschaft angebaut werden, Hybride. Hybride sind gezüchtete Pflanzen, die einen hohen Ertrag bringen, deren Früchte aber nicht wieder als Samen genutzt werden können. Das bedeutet aber auch, dass Landwirt:innen das Saatgut nachkaufen müssen und somit auf große Konzerne wie Monsanto oder Syngenta angewiesen sind, denen diese Sorten gehören. Das gilt für die konventionelle Landwirtschaft, aber leider auch für einen großen Teil der biologischen Landwirtschaft. Demeter hat als erster Bio-Anbauverband Richtlinien für die Züchtung von alternativem Saatgut erlassen und fördert eine traditionelle Züchtung. Gentechnisch erzeugte Pflanzen sind bei Demeter verboten. Das zertifizierte Demeter-Saatgut ist immer samenfest.

Am 7. Februar 2024 stimmte das Europaparlament in Straßburg über die Deregulierung neuer genomischer Techniken ab. In Zukunft soll es in Europa möglich sein, gezüchtete Pflanzen mit wesentlich vereinfachten Verfahren mittels neuer Gentechnik zuzulassen.

Die Gentechnik befördert den agrarindustriellen Ansatz, es wird nicht daran gearbeitet, das System zu verbessern – sondern es werden einseitig Pflanzen gentechnisch für bestimmte Eigenschaften «optimiert», oftmals so, dass sie zusammen mit bestimmten Pestiziden besser funktionieren. Mit einer Deregulierung von Gentechnikverfahren in der Landwirtschaft droht eine Flut an patentierten Pflanzen auf den Markt zu strömen. Für die mittelständische Züchtung und Lebensmittelwirtschaft sowie für bäuerliche Betriebe ist dies eine rechtlich unübersichtliche und wirtschaftlich bedrohliche Situation.

Ein Beispiel für eine biologisch-dynamisch gezüchtete Pflanze, die an die aktuellen Bedingungen gut angepasst ist, ist der im niedersächsischen Darzau von dem Züchter Karl-Josef Müller entwickelte Lichtkornroggen. Lichtkornroggen hat einen milden Geschmack und eine helle Farbe, ist leichter und bekömmlicher als Roggen, aber geschmacklich gleich gut. Für den ökologischen Anbau ist der Lichtkornroggen ideal, denn er kommt mit wenigen Nährstoffen aus und kann Dürren besser überstehen. Die Züchtung ist auch bei Getreide sehr aufwendig. Ein Ziel in der Züchtung ist vor allem, die junge Pflanze resistent zu machen. Aber nur wer eigene Sorten auf den Markt bringt, kann sich unabhängig von konventionellen Züchtungen machen. Dadurch wird Saatgut Kulturgut und bleibt nicht reiner Wirtschaftsfaktor. Die Sorten gehören dann Vereinen wie dem gemeinnützigen Verein Kultursaat e.V.

Die Züchterin Christina Henatsch vom Gut Wulfsdorf bestätigt, was Rudolf Steiner schon im «landwirtschaftlichen Kurs» 1924 beschrieb: Die Ernährung und der Darm haben großen Einfluss auf unsere Stimmung und unser Denken. Es gibt eine zunehmende Rebellion der Verdauung, etwa bei der Glutenunverträglichkeit oder anderen Nahrungsmittelunverträglichkeiten. In Lebensmitteln steckt «Leben» drin, das heißt, es macht einen Unterschied, was wir zu uns nehmen und was wir fördern. Lebensmittel haben nicht nur einen Geschmack. Sie haben auch Wirkung. Manche führen zu Nervosität und Abnahme oder Zunahme der Leistungsfähigkeit. In der von Dr. Uwe Geier begründeten Wirksensorik wird die «Beobachtung der seelisch-körperlichen Wirkung von Lebensmitteln» praktiziert.

Ernährung hat einen großen Einfluss auf Wachstum, Entwicklung und Wohlbefinden des Säuglings, wie die Deutsche Gesellschaft für Ernährung schreibt, und auch auf die neuromotorische Entwicklung. Die Stiftung Gesundheitswesen in Deutschland empfiehlt hier vor allem nährstoffreiche Kost mit den großen Bausteinen Kohlenhydrate, Eiweiße, Fette und den kleinen Bausteinen wie Vitamine und Mineralstoffe. Hier geht es vor allem um optimierte Mischkost. Brot soll beispielsweise mindestens 50 Prozent Vollkornanteil haben. Für Kinder kann etwa durch das gemeinsame Aussäen von Saaten das Bewusstsein dafür geschärft werden, dass die Lebensmittel nicht einfach bloß so aus dem Supermarkt kommen, sondern dass ihr Essen eine lange Kette an Herstellung durchläuft.

Schließlich beginnt jeder Bissen mit einem Samen. Und unser Körper ernährt sich von der Welt. Wir nehmen etwas in uns auf, zerkleinern es und gewinnen dadurch an Kräften. Uns alle betrifft und prägt, was wir essen. Längst leben die meisten von uns in einem hoch modernen Ernährungssystem. Die Lebensmittel sind nicht nur hochverarbeitet, sondern schon von der Pflanze oder dem Tier auf industriell gezüchtet. Nur wenn wir Entscheidungen treffen, in denen der Boden, die Düngung, das Saatgut mit Zeit und Qualität investiert wird und eine Wertschätzung der Natur geschieht, können wir einer klimaneutralen Zukunft entgegenblicken. Samenfeste Züchtung ist eine aufwendige, aber wie im Fall des Lichtkornroggens hochqualitative Alternative. So könnte es mit dem Gemüseanbau für den Klimaschutz vielleicht doch noch etwas werden!

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