Ausgabe 10/24

Inspiration statt Definition

Annette Pichler

Nicht nur die anthroposophische Heilpädagogik benötigt heute eine Aktualisierung. In der Fachwelt stellt sich seit einigen Jahren die Frage nach dem Begriff der Heilpädagogik, der Anfang der 1860er Jahre geprägt wurde. Dieser ist mittlerweile durchaus umstritten, da er impliziert, dass eine Person geheilt werden müsse oder könne oder auch durch eine pädagogische Intervention irgendwie «heiler» – im Sinne von «ganzer» – werden müsse. Damit wird die Ursache für die Behinderung allein in der Person verortet, während die Tatsache, dass sehr viele Aspekte von Behinderung erst durch die jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen entstehen, außer Acht gelassen wird. Natürlich muss manchmal, zum Beispiel für therapeutische Ziele, eine kategorisierende Diagnostik erfolgen. Dennoch bringt eine solche die Gefahr einer zuschreibenden und unter Umständen auch defizitären Wahrnehmung von Menschen mit sich, die dann als bedürftig konstruiert werden, während ihre Fähigkeiten und Ressourcen in den Hintergrund treten oder gar nicht wahrgenommen werden. In diesem Zusammenhang sehe ich auch den in anthroposophischen Organisationen verwendeten Begriff der «Seelenpflegebedürftigkeit» kritisch. Denn auch dieser bildet eine separate Kategorie für Menschen mit Assistenzbedarf und lenkt den Blick primär auf eine angenommene Bedürftigkeit. Wenn überhaupt, wäre zu fragen, ob nicht alle Menschen von einer gewissen «Seelenpflege» profitieren könnten.

Teilhabe


In jedem Fall haben alle Menschen ein innewohnendes Bedürfnis sowie auch die Fähigkeit zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, unabhängig von ihren Eigenschaften wie etwa einer Behinderung oder einer psychischen Erkrankung. Die Gesellschaft muss daher so gestaltet werden, dass Menschen an ihr teilhaben und sich in ihrer Einzigartigkeit entfalten können, statt sich, quasi als Vorbedingung für Zugehörigkeit, mehr oder weniger willkürlich gesetzten Normen unterwerfen zu müssen. Mit diesem anderen Blickwinkel richtet sich der Fokus der Aufmerksamkeit nicht mehr auf das, was eine Person nicht kann, sondern im Gegenteil darauf, welche Fähigkeiten und Ressourcen sie hat, um ihre Biographie und das gesellschaftliche Leben mitzugestalten.

Empowerment


Ein weiteres zentrales Konzept in diesem Zusammenhang ist Empowerment. Dies will sagen, dass die Aufgabe der Fachkräfte nicht darin besteht, einer Person zu helfen, sich in Richtung einer nichtbehinderten Norm zu entwickeln, sondern ihr so zu assistieren, dass sie auf ihr ureigenes Potential bestmöglich zugreifen und sich selbstbestimmt entfalten kann. Denn selbst dann, wenn ein Mensch sein Leben nicht selbständig, also nicht ohne Assistenz, leben kann, so kann er es doch selbstbestimmt gestalten.

Inklusion
 

Aus dieser Perspektive wird ein Mensch mit einer Behinderung nicht mehr als kategorial anders beschrieben als alle anderen Menschen. Dies führt konsequent zur Idee der Inklusion. Diese erkennt an, dass jeder Mensch in seinem So-Sein ein zentral wichtiges Mitglied der Gesellschaft ist und dass die Gesellschaft sich strukturell so entwickeln muss, dass Teilhabe auch dann möglich ist, wenn eine Person Assistenz für die Gestaltung ihres Lebens benötigt. Damit ist die Frage, wie dies umgesetzt werden kann, zwar noch nicht beantwortet. Inklusion aber als von vornherein nicht umsetzbar zu beschreiben, weil die Rahmenbedingungen noch nicht stimmen, wäre falsch. Es ist die Verantwortung der Politik, die Ressourcen dafür bereitzustellen, denn Deutschland hat 2009, also bereits vor 15 Jahren, die UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen ratifiziert.

Was aber bedeutet dies alles für das hundertjährige Bestehen der anthroposophisch inspirierten Heilpädagogik? Ebenso wie der Begriff der Heilpädagogik zu bestimmten Fragen führt, steht es auch mit dem Begriff der Anthroposophie innerhalb der Pädagogik und des Sozialwesens.
In meinem im Herbst 2024 im Info3 Verlag erscheinenden Buch Kreis und Punkt. Eine kritische Analyse zum Heilpädagogischen Kurs Rudolf Steiners habe ich mich daher bewusst entschieden, von «anthroposophisch inspirierter Heil- und Inklusionspädagogik» zu sprechen, weil es mir nicht einfach erscheint, kategorial oder eindeutig zu definieren, was denn eine «anthroposophische» Heil- und Inklusionspädagogik ist und was sie nicht ist. Wenn ich hingegen von inspiriert spreche, ist klar, dass es eine Pädagogik ist, die Inspirationen aus dem Heilpädagogischen Kurs sowie der seitdem gewachsenen Praxis erhält, ohne sich allem, was damals und seitdem geschehen ist und entwickelt wurde, zu verschreiben.

Steiner und die Heilpädagogik
 

Denn es gibt unter Steiners Ideen zur Situation von Menschen mit Assistenzbedarf sowohl Elemente, die ich heute noch als inspirierend erlebe, als auch solche, die meines Erachtens als durchaus problematisch einzustufen sind. Wesentlich ist sein in einem Brief kommunizierter Gedanke einer «voll intakten Geistgestalt» (Steiner, Brief an Willy Schlüter, 12. Juli 1915), und einige seiner Aussagen im Heilpädagogischen Kurs weisen darauf hin, dass Steiner in mancher Hinsicht sehr modern dachte. So sprach er davon, kein Recht zu haben, «über die Normalität oder Abnormalität des … Seelenlebens» (vgl. Steiner, 2024, GA 317, S. 14) zu sprechen und betonte, wie wichtig es ist, dass Pädagog:innen sich selbst und ihre Haltung reflektieren, dass echtes Mitfühlen zum Beispiel darauf basiert, sich der eigenen Sympathien und Antipathien bewusst zu werden. Mit der Punkt-Kreis-Meditation entwickelte er ein zentrales Instrument zur Entwicklung von Einfühlungskompetenz in die Situation eines Gegenübers und zeigte auf, dass wir als Menschen in der spannungsreichen Polarität zwischen geistig-seelischer Intention und leiblich-seelischer Bedingtheit stehen. Dass das Ich diese Spanne überbrücken und aktiv gestalten kann und sowohl Punkt als auch Kreis nur eine jeweils andere Ausdrucksform derselben Wirklichkeit sind, drückt sich in folgendem vielzitierten Satz aus: «Sie müssen verstehen, dass ein Kreis ein Punkt, ein Punkt ein Kreis ist, und müssen das ganz innerlich verstehen.» (vgl. Steiner, 2024, GA 317, S. 172).

Auf der anderen Seite sind einige der damaligen «heilpädagogischen» Aussagen, Diagnosen und Therapien Rudolf Steiners ausgesprochen kritisch zu sehen. Die Situation einer davon betroffenen Familie habe ich in dem oben erwähnten Text aufgearbeitet. Auch Steiners Aussage, es handele sich bei der Erziehung von Kindern mit einer Behinderung «um ein tiefes Eingreifen in die karmischen Tätigkeiten, die sich sonst vollziehen würden zwischen Tod und einer nächsten Geburt» und man greife damit «in die Arbeit der Götter ein» (vgl. Steiner, 2024, GA 317, S. 43), ist in meinen Augen problematisch. Nicht nur werden Kinder mit einer Behinderung hier als kategorial unterschieden von allen anderen Kindern dargestellt, sondern die Aussage birgt auch die Gefahr eines überhöhten Selbstbildes von Pädagog:innen, die sie übernehmen. Wie ein Kollege mich neulich fragte: «Muss es Heilung sein, geht es auch eine Nummer kleiner und liebevoller?» Denn auch in der anthroposophischen Sekundärliteratur und im daraus abgeleiteten Alltagsdiskurs haben sich über die Jahrzehnte Bilder entwickelt, die so nicht stehenbleiben können. Dazu gehört zum Beispiel die meines Erachtens nicht haltbare Idee eines angeblich möglichen Zusammenhangs zwischen «karmischer Schuld» und Behinderung, wie sie zum Beispiel Michaela Glöckler in ihrem Buch Elternsprechstunde von 2016 beschreibt.

Wir bewegen uns also in einem komplexen Feld mit vielen spannenden Fragen – gerade auch für die Fachkräfte, die hier tätig sind. Sonderpädagog:innen, Heilerziehungspfleger:innen und Heilpädagog:innen arbeiten mit Menschen mit unterschiedlichsten biographischen Herausforderungen, unter anderem auch mit Menschen, die schwere Traumatisierungen erlebt haben. Diese Berufe erfordern mehr als den Wunsch, etwas «Gutes» zu tun und «Bedürftigen» zu «helfen». Im Gegenteil, sie sind gerade deswegen so faszinierend, weil sie – auch das hat Steiner im Heilpädagogischen Kurs dargestellt – dazu auffordern, sich auch mit der eigenen Bedingtheit, also der eigenen Biographie, den eigenen Gefühlen und den eigenen Zuschreibungen so auseinanderzusetzen, dass eine gewisse innere Klarheit und Handlungsfreiheit entstehen. Erst mit dieser Voraussetzung kann ein Gegenüber in seiner Entfaltung bestmöglich begleitet werden.

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