Erziehungskunst | Frau Franck, wie kommen Sie am besten ins Schreiben?
Julia Franck | Das Schreiben ist ein Prozess, der sehr viel Konzentration und einen großen Zeitraum verlangt. In früheren Jahren habe ich in solchen Wochen mit einem neuen Roman angefangen, in denen meine Kinder mit ihrem Vater verreist waren oder im Kindergarten, in der Schule, im Hort waren. Eine Wohnung, ein Zimmer allein, ist ein Konzentrationsraum, der einen geistigen Freiraum schafft. Am schönsten ist es, wenn ich mich unmittelbar vom Aufwachen an den Schreibtisch setzen kann und noch keine soziale Begegnung hatte, zum Beispiel beim Teekochen oder Frühstückmachen. Dieser Zwischenzustand zwischen Schlaf, Traum, Aufwachen und Sitzen am Schreibtisch ist für die Kreativität ein enorm wichtiger Zustand.
EK | Inwiefern hat sich Ihre Schreibleidenschaft schon früher ausgedrückt?
JF | Ich komme aus einer Künstlerfamilie, in der ein künstlerischer Ausdruck präsent war. In der Kindheit äußerte sich das beim Malen, Zeichnen, Modellieren mit Ton, vor allem auch in unseren Phantasiespielen. Mit dem Schreibenlernen habe ich kleine Geschichten und Gedichte geschrieben. Geschichten erzählen, erfundene Geschichten spielen, das Zuhören war Alltag. Sich in Geschichten hineinzuversetzen, das geschieht an der Waldorfschule ja verstärkt mündlich – über Wochen folgten wir im Epochenunterricht den Mythen der alten Griechen und Perser. Geschichten zuzuhören ist, meiner Meinung nach, ein ganz tiefes menschliches Bedürfnis. Die Entwicklung von Empathie und inneren Bildern beim Zuhören zählten für mich zu den wichtigsten Erfahrungen innerhalb dieser Waldorfjahre.
EK | Gab es auch etwas, was Sie in Ihrer Schulzeit an der Waldorfschule vermisst haben?
JF | Mir hat der grammatikalische Unterricht in den Fremdsprachen gefehlt. Wir haben viel gesungen, auf Französisch und Englisch, aber niemand hat wirklich ein Wort verstanden. Der Fremdsprachenunterricht funktionierte für mich deshalb eher dürftig. In den Naturwissenschaften war es so, dass es dem Lehrer nicht gelang, uns jenseits der physikalischen oder chemischen Experimente Gesetzmäßigkeiten zu vermitteln. Ich dürstete zu der Zeit nach Lehren und Strukturen, die eine gewisse Ordnung in die Welt bringen, die uns Kindern noch sehr chaotisch erschien. Ich glaube, dass entspricht auch dem Wachsen des Menschen: Je älter ein Kind wird, desto mehr nimmt es Chaos und Ordnung der Welt wahr, und empfindet einen Wunsch danach, Ordnung zu verstehen, sie vielleicht auch zu gestalten. Was wir handwerklich und praktisch mit den Händen tun können, lernen Kinder leichter an der Waldorfschule als an einer Regelschule.
EK | Was ist Ihrer Meinung nach wichtig für junge Menschen während ihrer Schullaufbahn?
JF | Kenntnis und vielleicht auch die Wertschätzung für bestimmte Berufe. Internet und soziale Medien spülen heute neben Musikern, Schauspielern und Politikern insbesondere Influencer, You Tuber, Tiktok-Berühmtheiten ins Bewusstsein junger Leute. Da sie selbst die Welt vor allem über den Bildschirm wahrnehmen, nehmen sie zunehmend kreative und populäre Jobmöglichkeiten als reale Berufe wahr. Uns fehlen überall Fachkräfte in handwerklichen und sozialen Berufen. Nicht einmal die Lehrstellen können hier besetzt werden. Da ist eine merkwürdige Diskrepanz zwischen den Interessen der Gesellschaft und denen des Einzelnen. Ich glaube, dass Regelschulen wie auch Waldorfschulen noch einiges entwickeln müssten, um den jungen Menschen soziale Verantwortung und Selbstbewusstsein zu lehren. Wir müssen diese Berufe höher ansiedeln, insbesondere die Pflegeberufe gehören deutlich höher bezahlt. Es ist doch verrückt, dass junge Menschen ein vielfaches mit Produktwerbung für Kosmetik, Sportartikel, Mode im Internet verdienen gegenüber denjenigen Menschen, die sich in Pflegeeinrichtungen um kranke und ältere Menschen sorgen. Auch unter den Waldorfschüler:innen gibt es eine merkwürdige Dünkelhaftigkeit: Wir sind etwas Besseres, denn wir schätzen den Menschen hoch. Diese Wertschätzung sollte aber nicht nur dem Künstler, dem Kreativen, gelten, sondern auch demjenigen, der als Pflegekraft, als Klempner und Tischler arbeitet.
EK | Haben Sie Idole?
JF | Ja, aus unterschiedlichsten Generationen. Eine Freundin meiner Mutter war für mich wie eine Lehrmeisterin. Bis zu ihrem Tod war sie meine wichtigste und kritische Gesprächspartnerin zu Literatur, Theater, Bildender Kunst. Aber auch meine Freundin aus der Schulzeit, sie ist Sozialarbeiterin, eine andere langjährige Freundin ist Krankenschwester und war über 15 Jahre in der Entwicklungshilfe tätig, sie arbeitet noch heute im humanitären Sektor für das Deutsche Rote Kreuz. Alle drei haben bzw. hatten ein äußerst geringes Einkommen. Auch lerne ich von meinen Kindern und deren Freundinnen und Freunden.
EK | Was haben Sie zuletzt von Ihren Kindern gelernt?
JF | Von meiner Tochter zum Beispiel bestimmte Gerichte. Wir kochen nie nach Rezeptbuch, sie hat in den letzten Jahren viele vegane Gerichte erfunden. Von ihr lerne ich auch einen anderen Blick auf die Verwendung von Sprache. Wir können Schokoküsse sagen, selbst dann, wenn wir sie in unserer Kindheit anders genannt haben. Nicht nur die Achtsamkeit und Reflektion, sondern auch das Integrieren in das alltägliche Sprechen habe ich durch meine Kinder gelernt.
EK | Frau Franck, vielen Dank für das Gespräch.
Die Fragen stellte Heidi Käfer.
Ausgabe 11/23
Kommentare
Es sind noch keine Kommentare vorhanden.
Kommentar hinzufügen
Vielen Dank für Ihren Kommentar. Dieser wird nach Prüfung durch die Administrator:innen freigeschaltet.