Waldorf erklärt

Der Kopf braucht Hand und Fuß

Henning Kullak-Ublick
Foto: © Charlotte Fischer

Lisas Füße haben ihr auf dem Weg vom Parkplatz zum Wasser vom Waldboden erzählt, vom heißen Sommer und vom nassen Sand bei Ebbe. Natürlich weiß sie nur, was ihre Füße sagen, weil sie dafür Begriffe hat, aber ohne ihre Fuß-Botschaften hätte sie viele Begriffe gar nicht erst bilden können. Zum Verstehen braucht sie die Füße.

Lisa hat auch noch zwei Hände, und die gehören zweifellos zu den größten Wunderwerken der Evolution. Nur wer die Hand versteht, kann den Menschen begreifen. Den Tastsinn, Wärmesinn, Gleichgewichtssinn und »kinästhetischen Sinn«, durch den wir unsere eigenen Bewegungen spüren, haben wir schon in Lisas Füßen bei der Arbeit kennengelernt. In ihrer Hand wirken sie noch viel umfassender: Während sie die Welt mit ihr zugleich erspürt und aktiv gestaltet, entsteht – Intelligenz.

Was verrät uns dieses differenzierteste Bewegungsorgan, das überhaupt existiert, über uns selbst? Was am Schulterblatt mit dem Oberarmknochen beginnt, wird am Ellenbogengelenk zu Elle und Speiche, die sich am Handgelenk wiederum in die immer feiner differenzierten Fingerknochen aufgliedern. Durch die vielen Gelenke, Sehnen und Muskeln sind die Arme und erst recht die Hände nicht auf bestimmte Bewegungen festgelegt, sondern können sich sehr frei bewegen. Im Unterschied zu den Tieren können wir unsere Daumen auf die anderen Finger zubewegen und damit Gegenstände ebenso kräftig wie behutsam ergreifen und führen.

Schon als Säugling hat Lisa mit ihren Händen herumgetastet und dabei die Grenze zwischen sich und der Außenwelt erlebt. Immer feiner lernte sie, mit ihren Fingerchen zu fühlen, was sie über die Beschaffenheit der Dinge verraten. Nach und nach vermittelte ihr der Tastsinn ein Bewusstsein von der Welt, die sie umgibt. Und während ihre Eltern sie mit ihren Händen hielten, auf tausenderlei Weise berührten, wickelten, streichelten oder aufhoben, hatte sie immer zugleich eine Begegnung mit ihrem »Ich«, das in all diesen Berührungen anwesend und wirksam war. Tastend erfuhr Lisa, dass es die Welt und sie selbst gibt.

Schlafen Sie noch oder stricken Sie schon?

Die bildschaffenden Verfahren der modernen Hirnforschung vermitteln ein differenziertes Bild davon, wie innig der Gebrauch unserer Hände, unsere Feinmotorik und die Entwicklung des Gehirns miteinander verknüpft sind. Als »neuroplastisches Organ« entwickelt sich das Gehirn in Korrespondenz mit allem, was wir seelisch oder körperlich tun, andauernd weiter. Italienische Forscher konnten schon nach zwanzig Minuten des Herumklimperns auf einem Klavier neuronale Veränderungen bei ihren Versuchspersonen nachweisen. Und nachdem zwölf musikalisch nicht vorgebildete Personen zehn Tage lang für jeweils 35 Minuten ihre beidhändige Fingerfertigkeit auf einem Keyboard trainiert hatten, bildeten sich neue Verbindungen zwischen ihren linken und rechten Hirnhälften, sodass die Rechtshänder links und die Linkshänder rechts geschickter wurden. Beide Seiten arbeiteten fortan besser zusammen. An Waldorfschulen lernen Kinder schon in der ersten Klasse das Häkeln, dem bald darauf das Stricken folgt. Die Hände entwickeln bei dieser Tätigkeit eine außerordentliche Intelligenz, weil die äußerst komplizierten feinmotorischen Bewegungen der rechten Hand genau mit denen der linken Hand abgestimmt werden müssen, damit sich Masche an Masche fügt und schließlich ein regelmäßiges Gewebe entstehen kann. Die Hände werden intelligent. Erst ist da der Wille, mit den Händen zu tun, was sich die Schüler:innen zunächst nur vorstellen, was wiederum über Zwischenschritte auf Hirnareale wie den präfrontalen Cortex zurückwirkt, in dem sich unser Erkennen komplexer Zusammenhänge abbildet. Wenn ein Kind beim Stricken lernt, die komplizierten Bewegungen der rechten Hand mit den Bewegungen der linken Hand abzustimmen, arbeitet es zeitgleich an seinem Willen und an seinen Gehirnstrukturen.

Rudolf Steiner beschrieb diesen Zusammenhang ein halbes Jahrhundert, bevor er empirisch belegt werden konnte, so: »Wenn man weiß, dass unser Intellekt nicht dadurch gebildet wird, dass wir direkt losgehen auf die intellektuelle Bildung, wenn man weiß, dass jemand, der ungeschickt die Finger bewegt, einen ungeschickten Intellekt hat, wenig biegsame Ideen und Gedanken hat, während derjenige, der seine Finger ordentlich zu bewegen weiß, auch biegsame Gedanken und Ideen hat, hineingehen kann in die Wesenheit der Dinge, dann wird man nicht unterschätzen, was es heißt, den äußeren Menschen mit dem Ziel zu entwickeln, dass aus der ganzen Handhabung des äußeren Menschen der Intellekt … hervorgeht« (Basel, 26. April 1920).

Wie bei den Klavierspielern ist das Einüben einer neuen Technik ein äußerst schwieriger Vorgang, der insbesondere am Anfang höchste Aufmerksamkeit erfordert. Lisa muss sich zuerst eine Vorstellung von dem bilden, was sie tun will und wie sie ihre Hände dazu bewegen muss. Ihre Vorstellung muss sie dann willentlich bis in die Fingerspitzen bringen. Während sie das tut, tastet und fühlt sie genau, was ihre Fingerchen zusammenzaubern – schult also auch ihren Tast- und Bewegungssinn. Indem Lisa strickend einen komplexen Zusammenhang erschafft, arbeitet sie zeitgleich intensiv an ihrem Willen und an ihren Gehirnstrukturen.

Das Internet als neuronales Netzwerk

Ein Blick auf ein ganz anderes Netz macht die Wichtigkeit der Fächer Handarbeit und Handwerken für die Zukunft der Kinder von heute noch deutlicher: Das Internet hat sich wie ein riesiges neuronales Netzwerk über die ganze Welt ausgebreitet und erobert immer mehr Gebiete unseres Lebens. Mit auf ein Minimum reduzierten Finger- und Augenbewegungen können wir in Sekundenbruchteilen auf ein schier unerschöpfliches Reservoir an Informationen zugreifen. Konzentration wird überflüssig, weil wir zu jedem Stichwort ein riesiges Angebot an Assoziationen – Links – angeboten bekommen, die ihrerseits wieder woanders hinführen und so weiter. Auch das wirkt unmittelbar auf das Gehirn, auf unsere Geschicklichkeit und unseren Willen, weil Fähigkeiten, die wir nicht benutzen, verkümmern.

Das Wunderwerk des Gehirns zeichnet sich dadurch aus, dass es ständig durch unsere Tätigkeit gestaltet und weiterentwickelt wird. Während Lisa strickt, prägt sie ihrem Gehirn die komplexen Zusammenhänge ein, die sie zuvor denkt und mit ihren Händen gestaltet. Sie schmiedet an ihrer Intelligenz und kann sich in völlig anderen, unerwarteten Lebenssituationen darauf verlassen, dass sie Zusammenhänge erkennen und gestalten kann. Ob sie diese Intelligenz später einmal für die Naturwissenschaft, das Erkennen ökologischer oder ökonomischer Zusammenhänge oder für andere Menschen einsetzt, ist nicht so wichtig. Wichtig ist, dass sie gelernt hat, wie man überhaupt intelligent wird. Die Intelligenz der Hände wird für die Generation der »digital natives« zu einer Lebensfrage. Sie hilft ihnen, inmitten der nicht endenden Informations­flut einen lebendigen Mittelpunkt zu schaffen. Sie ist es, die unseren Kopf an die Wirklichkeit bindet und dabei gesund werden lässt. Das schöne Gewebe entsteht, weil Lisa es Masche für Masche erschafft. Sie will – und lernt zum Lohn das Denken.

In seinen vermächtnishaften »Anthroposophischen Leitsätzen« schrieb Steiner kurz vor seinem Tod: »Im naturwissenschaftlichen Zeitalter ... gleitet die Kulturbetätigung der Menschen allmählich nicht nur in die untersten Gebiete der Natur, sondern unter die Natur hinunter. Die Technik wird Unter-Natur. Das erfordert, dass der Mensch erlebend eine Geist-Erkenntnis finde, in der er sich ebenso hoch in die Über-Natur erhebt, wie er mit der unternatürlichen technischen Betätigung unter die Natur hinuntersinkt. Er schafft dadurch in seinem Innern die Kraft, nicht unterzusinken.« Die teilsweise verheerenden Wirkungen der (un-)sozialen Medien sind ein ziemlich kräftiger Hinweis auf dieses potenzielle Untersinken der Kultur.

Die Stärkung der »erlebenden Geisterkenntnis« beginnt ganz ohne Zweifel durch das Ernstnehmen unseres Leibes für das Verstehen, Begreifen, Erfahren der Welt, durch das wir uns überhaupt erst als selbstverantwortlich handelnde, fühlende und denkende Menschen (Subjekte) erkennen können. Interessanterweise spricht auch die neuere Kognitionsforschung zunehmend von der »embodied cognition«, also der Bedeutung des Leibes für ein handlungsbezogenes Verstehen der Welt. Der Psychiater und Philosoph Thomas Fuchs spricht in seinem äußerst lesenswerten Buch »Verteidigung des Menschen« sogar von dem neuen Paradigma eines »Humanismus des lebendigen, verkörperten Geistes«. Die Intelligenz der Hände, ja unseres Leibes überhaupt, ist zu einer existenziellen Frage geworden, die nicht nur für das Verständnis des Lernens, sondern von uns Menschen selbst immer wichtiger wird. Nur als verkörperte Wesen können wir unsere Freiheit gewinnen!

Dieser Text erschien in einer ersten Version im Buch »Jedes Kind ein Könner« von Henning Kullak-Ublick, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2017.

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