Jung und Alt in der Erziehungskunst oder wie halten wir uns gegenseitig bei der Stange?

Christof Wiechert

Ich begegne so vielen pädagogischen »Riesen«, dass ich einen steifen Nacken davon bekommen könnte, wenn ich sie alle anschauen wollte. Aber ich schaue sie mir gerne an und oft, denn sie geben mir Kraft und Zuversicht. Zuversicht, weil ich spüre, dass ich mein Scherflein beitragen kann in einer seelischen Umgebung, in der sie sich aufhalten und ich dabei sein darf! Da sind so viele geistreiche, tatkräftige und der Erziehungskunst ergebene hochbegabte Seelen – es sind viel mehr als noch vor 50 Jahren. Ganz im Geheimen mache ich manchmal Listen von all den Kollegen, die mir soviel gegeben haben. Manchmal denke ich, was wäre aus mir geworden ohne diese bereichernden Begegnungen? Damit berühren wir ein großes Geheimnis: Was ist Eigenes, was wird einem durch die mannigfaltigsten Begegnungen geschenkt?

Es gibt drei Stufen im Schicksal der Menschen. Zum einen ist es das »Naturkarma«, worin meine leibliche und seelische Konstitution liegt. Die zweite Stufe ist das Karma der Affinitäten, der zu entfaltenden Talente und Fähigkeiten, die man mit der Geburt mitbringt, und schließlich gibt es das Schicksal oder Karma der Ereignisse und Begegnungen. Letzteres ist das Gestaltende für die Zukunft. Unsere Zukunftsfähigkeit hängt davon ab, ob wir begegnungsfähig sind.(1)

Der Klassenlehrer Heinz Müller (1899–1968) schreibt in seinen Lebenserinnerungen »Spuren auf dem Wege«, dass er sich bei seiner Konfirmation, angeregt vom Priester, eine Lebensfrage stellen sollte, und er bat sein Schicksal, dass er die Begegnungen, die in sein Leben kommen würden, nicht verschlafen möge.(2)

Die Probleme verschiedener Generationen von Lehrern an den Schulen haben eher mit einer eingeschränkten Begegnungsfähigkeit zu tun als mit Inhalten. Die verschiedenen konfligierenden Erkenntnisse in Sachen Pädagogik werden hervorgehoben, tatsächlich aber ist das eigentliche Problem die mangelnde Begegnungsfähigkeit verschiedener Generationen. In vielen Situationen der Lehrerbildung kann man erleben, wie verschiedene Generationen zusammenkommen. Finden sie eine gemeinsame Ebene der Begegnung? Eine durchaus spannende Frage. In der Lehrerbildung begegnet man jungen Erwachsenen, die einerseits schon einiges mitbringen, andererseits unerfahren sind – offen für ganz neue Erfahrungen und zugleich voll von Impulsen, die sie noch unerkannt in sich tragen. In der Lehrerbildung begegnet man auch zukünftigen Kollegen, die schon einen ziemlichen Teil ihres Lebensweges gegangen sind. Sie haben Lebenserfahrung, sind oft reife Persönlichkeiten und fachmännisch gebildet – und trotzdem auf der Suche nach einem anderen Wirkungskreis. Man kann sich kaum vorstellen, wie verschieden ein zu behandelnder Gegenstand – zum Beispiel allgemeine Methodik – ankommt und bearbeitet werden kann in diesen beiden Gruppen. Da erlebt man als Dozent hautnah, wie groß der Unterschied ist; ob man es mit Menschen zu tun hat, die eine oder fast zwei Generationen auseinanderliegen. Auf Dozentenseite erlebt man, ob die eigenen Erfahrungen vermittelbar sind und wie verschieden sie ankommen. Ist man in seinen Intentionen noch erkennbar? Wie ist es mit den altersbedingten oder beruflichen Deformationen? Kennt man sie, hat man sie im Griff? Wie neu und frisch sind die Beispiele, wie schnell wechselt man in eingefahrene Spuren der ewigen Wiederholung der eigenen Erfolgsgeschichte? Besitzt man die Flexibilität, immer (noch) Neues zu suchen und zu verarbeiten?

An der Hochschule hatten wir einen älteren Dozenten für Deutsche Literatur, der in jeder Vorlesung fragte, ob wir denn den Erlkönig von Schubert kennen? Gemein, wie Studenten sein können, verneinten wir das natürlich jedes Mal und in jeder Vorlesung wurde der Erlkönig wieder und wieder behandelt. Im Nachhinein ist man noch beschämt, dass man es hat gewähren lassen und dieser berufsbedingten Deformation keine Abhilfe verschafft hat. Es geht ja nicht nur um Lebenserfahrungen, die in diesem Kontext sicher eine wichtige Rolle spielen. Worum es aber vorzüglich geht, ist die Verinnerlichung dieser Erfahrungen. Ist die ältere Generation in der Lage, etwas auszudrücken, was in Worten schon fast nicht mehr gesagt werden und was mehr wirksam sein kann als der Transfer intellektueller Begrifflichkeit?

Ein spannendes Kapitel der Geisteswissenschaft ist das Gesetz des »Jüngerwerdens« der Menschheit. Steiner stellt es bei verschiedenen Gelegenheiten dar.(3) Es besagt, dass die natürliche Entwicklungsfähigkeit der Menschheit rückläufig ist. Noch vor tausend Jahren waren die Menschen bis zum 40. Lebensjahr in natürlicher Entwicklung begriffen, davor bis zum 60. Jahr, jetzt aber nur noch bis zum 26./27. Lebensjahr.

Zum Beispiel sei die natürliche mathematische Fähigkeit mit 19 Jahren ausgebildet, sie könne sich nur noch durch Übung steigern, nicht mehr durch Anlage. Ist diese Gesetzmäßigkeit wahrnehmbar?

Bei einem Besuch in den Kolonien ehemaliger Hippies in Kalifornien und an der australischen Goldküste konnte ich eine merkwürdige Erfahrung machen. Ich begegnete Fünfzig-, Sechzigjährigen, die irgendwie nicht ihrem Alter zu entsprechen schienen. Sie benahmen sich wie Studenten, hatten ein lockeres Verhältnis zum Berufs- oder Erwerbsleben (oder gar keins), und lebten eine Sorglosigkeit dar, die anscheinend keine Grenzen kannte. Es war, als blieben sie jung im Alter.

In Expecting Adam beschreibt die amerikanische Schriftstellerin Martha Beck, wie sie als superhochbegabte
Studentin mit schon zwei Doktorhüten und ihrem ebenfalls hochbegabten Mann, der noch in Harvard studiert, eine Familie gründet. Als sich das zweite Kind anmeldet, zeigt sich, dass es mit einem Downsyndrom geboren werden wird, und sie erzählt, wie die Harvard-Gemeinschaft das Austragen dieses Kindes abweist, wie Professoren ihr raten, das zu tun, »was vernünftig ist, auch für die Karriere«, und wie sie plötzlich erlebt, wie uralt, wie sklerotisch diese Umgebung hochgezüchteter Intelligenz ist, wie schon junge Hochschullehrer im Hamsterrad herumrennen, aber sich keinen Millimeter fortbewegen: uralt schon in der Jugend.(4)

Vor Jahren gab es, ebenfalls in Amerika, Untersuchungen zur Frage, ob Alzheimer und Demenz mit dem Lebensstil (Lifestyle) zusammenhängen. Schnell entdeckte man, dass die Qualität der Ernährung eine Rolle spielt, aber mehr noch die Lebensweise. Man fand zum Beispiel heraus, dass Mitglieder von Glaubensgemeinschaften, deren Leben sehr rhythmisch zwischen Arbeit und Kontemplation verlief, auch im hohen Alter geistig und leiblich frisch und beweglich geblieben waren und Demenz nur selten vorkam. Eine Tatsache, auf die Steiner schon früh hingewiesen hat.

Nun soll auf ein weiteres Phänomen hingewiesen werden, das heute eine gewisse Aktualität besitzt. In den pädagogischen Vorträgen spricht Steiner auch über die drei Stufen des Menschenlebens: Jugend, mittleres Alter und Greisenalter. Im Allgemeinen meint er, sei der Mensch in seiner Jugend am meisten Leib, im mittleren Alter am meisten seelisch und im Greisenalter am meisten geistig. Es sei auch von Bedeutung, zu betrachten, was denn in der Jugend der Geist macht und im Alter der Leib. Steiner schiebt dann eine Anekdote ein: »In Berlin waren einmal zwei Professoren. Der eine war Michelet, der Hegelianer, der schon über neunzig Jahre war. Er hatte es, da er ziemlich geistvoll war, nur zum Honorarprofessor gebracht, aber er hielt noch, als er schon so alt war, seine Vorträge. Da war dann ein anderer, Zeller, der Geschichtsschreiber der griechischen Philosophie. Der war gegen Michelet ein Jüngling, denn er war erst siebzig Jahre. Von dem hörte man überall, dass er die Last des Alters fühle, dass er nicht mehr seine Vorlesungen halten könne, dass er vor allem aber seine Vorlesungen eingeschränkt wissen wollte. Dazu sagte Michelet immer: Ich begreife den Zeller nicht; ich könnte noch den ganzen Tag Vorlesungen halten, der Zeller aber in seiner Jugend redet immer davon, dass ihm das zu viel Anstrengung verursacht!«(5) Die Anekdote zeigt, wie der Geist im Alter – im Gegensatz zur Jugend – den Leib bezwingen kann. Er fährt dann mit der Schilderung des mittleren Alters fort, in dem das Seelische das herrschende Prinzip ist. Das bedeutet, es kann sich ausleben oder eben nicht. Das Seelische kann auch verleugnet werden, es kann seelenlos werden, denn das Seelische steht in der Freiheit des Menschen, auch in der Erziehung.(6)

Das ist die Brücke, wo man vom mittleren Alter aus Jugend und Alter verstehen und verbinden kann. Die Seele kann Jugend und Alter verbinden, denn sie verinnerlicht alles Erlebte. Sie kann es, muss es aber nicht, es steht in ihrer Freiheit. Hier liegt die Möglichkeit, durch Erziehung und später durch Selbsterziehung aus der Mitte die Lebensbegegnungen und -erfahrungen im Innern wirksam zu machen. Und da heraus kann Neues, Fortschreitendes entstehen, wenn die Seele es umgeschmolzen und verwandelt hat. Dazu ist aber auch notwendig, dass die Jugendzeit sich ihre Zukunft nicht mit seelischen Verhärtungen verbaut – Verhärtungen, die in Zeiten der Dominanz einer naturwissenschaftlich geprägten Menschenauffassung leicht entstehen. Dieses frühere Älterwerden spricht sich in dem Satz aus: Die 60-Jährigen von heute sind die 70-Jährigen von gestern, die 70-Jährigen von heute sind die 80-Jährigen von gestern. Unsere Gesellschaft wird älter und älter, die Leibesgrundlage ist in der »ersten Welt« stabil, wie nie zuvor. Im Sinne von Michelet ist das eine wunderbare Sache. Andererseits hat das Geistige es schwer mit zu fester, zu harter Leiblichkeit. Das Alter braucht Beweglichkeit im Inneren (seelisch-geistig) wie im Äußeren (physisch). Diese Beweglichkeit wird aber in den davor liegenden Zeiten angelegt. Darin liegt die Bedeutung der Pädagogik für das Altern, für das Alter. In der Geisteswissenschaft liegen alle Instrumente bereit, um das Altern auch in dieser Lebensphase menschengemäß zu gestalten.

Anmerkungen:

1) R. Steiner: Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge, Band 1, GA 235, 3. Vortrag, 17. Februar 1924, Dornach.

2) H. Müller: Spuren auf dem Wege, Erinnerungen, Stuttgart 1970.

3)  Zum Beispiel in GA 174b, 10. Vortrag 13. Mai 1917. In diesem Vortrag wird auch auf den Zusammenhang von fehlender Selbsterziehung und Demenz hingewiesen. Auch in GA 176, Das Karma des Materialismus, und in: Der Europäer, Nr. 1, November 2002, Perseus Verlag Basel, Beitrag von Thomas Meyer.

4) M. Beck: Expecting Adam, Three Rivers Press, New York 2011.

5) R. Steiner: Allgemeine Menschenkunde, GA 293, 7. Vortrag, Stuttgart, 28. August 1919.

6)  Ebd.

Zum Autor: Christof Wiechert war langjähriger Klassenlehrer in den Niederlanden und Leiter der Pädagogischen Sektion am Goetheanum.