Ausgabe 12/24

Junge Anthroposoph:innen klären auf

Richard Ulrich

Wir wollten auf ein zunehmend verfestigtes Zerrbild von Waldorf, Demeter und anthroposophischer Medizin in der Öffentlichkeit reagieren. Denn der Status quo der Berichterstattung verhindert de facto Kritik im Sinne von konstruktivem Differenzierungsvermögen, das fundierte Urteile ermöglicht und sinnvolle Reformoptionen in Aussicht stellt. Unsere Hypothese war, dass ein kleines, dezentrales Team junger engagierter Menschen leichter und schlagfertiger am öffentlichen Diskurs teilnehmen kann als größere Institutionen aus der anthroposophischen Bewegung selbst.

Wir sind eine lose Gruppe aus knapp zehn ehemaligen Waldorfschüler:innen zwischen Anfang 20 und Ende 30. Die meisten von uns sind im unternehmerischen Kontext unterwegs. Manche haben erfolgreich gegründet, andere sind an Unis tätig. Unser Eindruck ist: Wir verdanken es auch unserer positiv prägenden Zeit in der Waldorfschule, dass wir ganz gut im Leben stehen und wirksam tätig sein können. Manche von uns sind inzwischen Eltern und haben ihre eigenen Kinder ebenfalls in einem Waldorfkindergarten oder einer Waldorfschule angemeldet. Wir leben im ganzen Bundesgebiet, kannten uns teilweise schon vorher, haben aber auch über mehrere Ecken zusammengefunden. Wenngleich Teile der Kritik nachvollziehbar und berechtigt sind, konnten und wollten wir einfach nicht länger zusehen, wie die Waldorfschulen medial kaputt gemacht werden.

Die Corona-Pandemie hat den öffentlichen Blick in Deutschland auf Waldorfschulen und die Anthroposophie massiv verschoben. Wartete Die Zeit 2011 anlässlich des 150. Geburtstages von Rudolf Steiner noch mit der Überschrift «Eine Schmiede guter Menschen» auf, um die Landschaft der Waldorfpädagogik zu würdigen, beschrieb Spiegel-Autor Tobias Rapp Ende 2021, wie schlimm es in «Steiners Sekte» zuginge: Impfskepsis, verweigerte medizinische Behandlungen, Verschwörungstheorien. Schlussfolgerung: Menschen aus dem Waldorfumfeld seien eine seltsame bis gefährliche gesellschaftliche Sondergruppe, deren Tätigkeiten stärker reglementiert werden müssten.

Ja, auf Querdenker-Demos tummelten sich auch Waldorflehrer:innen, die ihren Beruf auf der Bühne laut und stolz preisgaben und damit eine politische Botschaft verbanden. Einzelne Schulen hielten sich zudem nicht an die geltenden Pandemie-Verordnungen. Der Image-Schaden und eine einseitige mediale Berichterstattung für Waldorf waren vorprogrammiert, angereichert mit einer Vielzahl von Falschbehauptungen und einer über die Pandemie hinausreichenden Publikationsdynamik. Jan Böhmermann widmete Waldorfschulen und Rudolf Steiner im November 2022 eine ganze «royale» Folge (#AnthroBeben), zuletzt behauptete Lukas Hildebrand im Spiegel, dass angehende Waldorflehrer:innen nach Dornach an das Grab Steiners pilgern müssten.

Die Berichterstattung ist unterkomplex und bildet nicht ab, was an den mehr als 250 Schulen in Deutschland tagtäglich in Form einer modernen und zugwandten Pädagogik stattfindet, die auf die Stärkung der intrinsischen Motivation setzt und vielseitig befähigte Absolvent:innen hervorbringt. Mir selbst ist es in der Waldorfschule immer so gegangen, dass die Lehrer:innen es geschafft haben, mich für die Inhalte und nicht für die gute Note zu begeistern.

Die negative mediale Aufmerksamkeit bleibt aber nicht folgenlos. Einige Schulen berichten über eine sinkende Anzahl von Anmeldungen für die ersten Klassen, Eltern stellen verunsichert ihre Schulentscheidung infrage, die Suche nach Lehrkräften gestaltet sich als zunehmend schwer. Die verhältnismäßig frei organisierte Ausbildung von Klassenlehrkräften der gesamten Waldorfschulbewegung erfährt zudem einen immer größeren Anpassungs- beziehungsweise Verdrängungsdruck hin zu klassischen Lehramts- oder Bologna-Studiengängen.  

Den digitalen Raum betreten
 

Der verhärtete Anthroposophie-Skeptizismus lebt im Internet. Daher stellte ein erstes Aktionsfeld für unsere Initiative Twitter dar, als die Plattform tatsächlich noch so hieß. Angeführt vom besonders militant schreibenden und von Leitmedien regelmäßig zitierten Anthroblogger Oliver Rautenberg, hatte sich hier eine Community von dezidierten Anthroposophie- und Waldorf-Skeptiker:innen zusammengefunden, die in agitatorischen Beiträgen das Narrativ einer gemeingefährlichen Bewegung aus Landwirt:innen, Waldorflehrer:innen und Ärzt:innen nährten. Den Fixstern dieser Erzählung bildet Steiner als rassistischer, wissenschafts- und menschenfeindlicher Scharlatan, auf den Tausende Gläubige über Generationen hineingefallen seien. Die Erzählung gleicht einer Verschwörungstheorie par excellence. Doch je kruder der Vorwurf, desto leichter die Erwiderung. Mit Quellenarbeit und Humor reagierten wir auf die Postings. Unsere Beiträge zogen oft weitere Tiraden des Bashings nach sich, aber sie durchbrachen auch regelmäßig den Modus der reinen Echokammer auf Social Media und machten immerhin für stumme Mitlesende sichtbar, dass es sich bei den Beiträgen aus den Reihen von Oliver Rautenberg um eine politische Agenda handelt, häufig flankiert von der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP), und nicht um eine sachliche journalistische Auseinandersetzung.

Eine besondere Stellung nahm auf Social Media das Hashtag #ExWaldi ein. Unter diesem teilen ehemalige Waldorfschüler:innen ihre Erlebnisse aus der Schulzeit. Negative Schulerfahrungen dominieren die Postings und müssen aufgeklärte Befürworter:innen von Waldorfschulen aufhorchen lassen. Zum Beispiel wird berichtet, wie Linkshänder:innen gezwungen wurden, mit der rechten Hand zu schreiben. Gerade diese Berichte sollten Anstoß für eine systemische, kritische und empirische Diskussion geben, die diesen Namen verdient, und nicht für eine unaufgeklärte Abrechnung an der gesamten Waldorfschulbewegung instrumentalisiert werden, deren Spektrum nur aus Schwarz und Weiß besteht.

Anthroposophie-Tage


Im Frühjahr 2023 unternahmen wir mit den Anthroposophie-Tagen in Berlin den Versuch, ein solches plurales Setting für eine Konferenz über Rudolf Steiner und die Anthroposophie zu kreieren. Ein niedrigschwelliger und praxisnaher Einstieg bei gleichzeitig fachlichem Tiefgang war unser Hauptanliegen. Neben Vorträgen zu Waldorfpädagogik, anthroposophischer Medizin, Demeter-Landwirtschaft und anthroposophischer Meditation bildete ein philosophisches Streitgespräch zwischen Ansgar Martins und Philip Kovce das Wagnis, abseits persönlicher Angriffe Raum für fundiert-kritische Positionen zu schaffen, die sich konstruktiv begegnen. Sowohl Kovce als auch Martins sind ehemalige Waldorfschüler und forschen an verschiedenen Universitäten zu religionswissenschaftlichen und philosophischen Fragestellungen.

Sehr deutlich wurde bei dem Gespräch, wie grundsätzlich verschieden die Positionen in Bezug auf die Anthroposophie und Steiner sind. Während Martins konstatierte, dass es sich bei der Anthroposophie um eine bloße «Imitation von Wissenschaft» handle, sah Kovce diese als bisweilen gescheiterten und vielfach modifizierten Versuch Steiners an, eine «neukantianische Philosophie» zu entwickeln, die naturalistisch-reduktionistische Perspektiven plausibel überwinden und geistige Phänomene wie das Bewusstsein begreifbarer machen will.

Keine bloße Rechtfertigung 
 

Es sind solche mühsamen, existenziellen Fragen aus Steiners Werk, die im öffentlichen Diskurs ignoriert werden. Stattdessen werden meist selektive Praxiserfahrungen und Aussagen genutzt, um das Gesamtwerk an sich zu delegitimieren und zu einer gefährlichen Ideologie zu verklären.
Uns ist klar: Mehrere Aussagen von Steiner entspringen offensichtlich einer spätkolonialen und kulturchauvinistischen Sichtweise und bedürfen vehementer Kritik. Doch es ist fraglich, inwieweit diese Passagen den individualistischen und humanistischen Kern der Anthroposophie und ihrer Lebensfelder konstituieren. Relevant für die Praxis von Waldorfpädagog:innen, Künstler:innen und Ärzt:innen waren die entsprechenden Aussagen nie.

Ausblick 2025


Am 30. März 2025 jährt sich Rudolf Steiners Todestag zum hundertsten Mal. Wir erwarten, dass zu diesem Datum in puncto medialer Berichterstattung richtig was auf uns zu kommt. Gleichzeitig sind unsere Erfahrungen, aus einer pragmatischen und offenen Haltung den Steiner- und Anthroposophie-Diskurs im Netz zu begleiten, wechselhaft. Oft gestaltete sich die die Arbeit gegen die immer wieder gleichen undifferenzierten Vorwürfe als unglaublich mühsam, kräfteraubend und schwerfällig.

Für den hundertsten Todestag wollen wir den Fokus daher idealerweise etwas verschieben – weg von der Abwehrhaltung gegenüber bekannten Phrasen des Bashings, hin zu dem, was die Bewegung aus Waldorfschulen, anthroposophischen Initiativen und Unternehmungen Positives und Relevantes leisten kann, um in einer krisengebeutelten Zeit Perspektiven der Regeneration von Mensch und Natur aufzuzeigen.

Waldorfschulen, anthroposophische Einrichtungen sowie von der Anthroposophie inspirierte Unternehmen und Institutionen sind herzlich eingeladen, ihre Türen am letzten März-Wochenende 2025 zum hundertsten Todestages von Rudolf Steiner gemeinsam zu öffnen.

Bei Monatsfeiern, Schulfesten, Führungen, Vorträgen, Hofführungen et cetera kann in eigener Sache informiert werden. Gleichzeitig wird der Blick auf Rudolf Steiner gelenkt, um zu zeigen, wie seine Gedanken durchaus als Zumutung, aber auch als Inspiration dienlich sein können. Der 100. Todestag bietet demnach auch die Chance, Steiner und die Anthroposophie als zumindest interessante Größen der Gesellschaft und der Kulturgeschichte wieder sichtbarer und diskussionsfähiger zu machen.

Unsere Initiative stellt Materialien bereit und wird auf einer Website gebündelt über die Aktivitäten der geöffneten Orte informieren. Packen wir es gemeinsam an, wir unterstützen gern!

Kontakt: offene-tuer@rs2025.org
Weitere Informationen unter: waldorfschule.de/termine-aktuelles/steiner-2025

Kommentare

M D, Augsburg,

Finde es super, dass junge Leute hier so offen über die Waldorf-Schulen sprechen und mit Vorurteilen aufräumen. Der Humor und die guten Argumente machen das Ganze noch viel interessanter.

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