»Traumatherapeutische Arbeitmit haitianischen Kindern – was soll das schon bringen! Die brauchen einfach nur zu Essen und sonst nichts«, meinte ein Herr in Deutschland, mit dem ich über Haiti sprach. »Stimmt das vielleicht?«, kann man sich fragen. »Macht an einem Ort, an dem das Essen so knapp ist wie in den Straßenlagern von Port au Prince, nicht tatsächlich nur die Nahrungsversorgung wirklichen Sinn?«
Natürlich steht auch für stART fest, dass die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln und Wasser, mit Notunterkünften, Decken und mit vielen anderen lebenswichtigen Dingen nach einer Katastrophe möglichst schnell sichergestellt werden muss. Aber kann das alles sein?
September 2010, in der Kinderambulanz eines Krankenhauses in Port au Prince. Eine Ärztin untersucht das stille, 12-jährige Mädchen Wideline auf Anämie und versucht eine körperliche Ursache für deren Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit zu finden. Es ist rührend, mitanzusehen, wie liebevoll sie das Kind behandelt und in ein Gespräch verwickelt.
Dabei stellt sich heraus, dass Wideline beim Erdbeben zwei Tage in den Trümmern der Kathedrale verschüttet war und miterleben musste, wie die Leute um sie herum starben.Die Ärztin meint hinterher, manchmal müsse nicht der verletzte Körper, sondern die verwundete Seele versorgt werden. Sie zum Reden zu bringen, sei im Fall von Wideline die größte Hilfe. Nur so könne sie das Trauma überwinden.
Mit zwölf der Familienälteste
Im selben Monat: Wir befinden uns in einem der vielen Straßenlager von Port au Prince. Hier betreut stART international seit April 2010 mehrmals wöchentlich die Kinder. »Timalis! Timalis!« rufen die Kinder mit freudestrahlenden Augen. »Timalis« – das ist das creolische Wort für »Kasperle«. Dass Kasperle ein Retter in der Not ist, darüber sind sich Kinder in Deutschland und Haiti gleichermaßen einig. So lauschen sie auch in den haitianischen Straßenlagern mit völliger Hingabe und innerem Engagement seinen Geschichten – lustigen, traurigen, spannenden und liebevollen. Unter der Kinderschar sind Zwölfjährige, die als Familienälteste nach dem Erdbeben vom 12. Januar 2010 ihre verwaisten jüngeren Geschwister durchbringen müssen, oder Achtjährige, die mutterseelenallein auf der Straße oder in einer Ecke der unzähligen Straßenlager überleben. Aber hier und jetzt können sie ganz Kind sein und dem Spiel der Puppen auf der Bühne folgen. Sie lachen, sie rufen, sie sind glücklich. Seit April 2010 kamen wir, das stART-Nothilfeteam, bestehend aus Europäern und Haitianern, täglich zu Kindern und Jugendlichen, die seelisch gezeichnet waren. Wir gaben ihnen Raum und halfen ihnen, wieder in ihr Kindsein zurückzufinden – im gemeinsamen, ganzheitlichen künstlerischpädagogischen und traumatherapeutischen Tun, im Spiel, im Lachen, im Geschichten-Erzählen, im Malen und Schnitzen, Jonglieren und bei Vielem mehr. Zusätzlich gaben wir an über zweihundert Mitarbeiter lokaler Hilfsorganisationen Teile unserer Arbeitsansätze weiter und wurden aufgrund dieser Tätigkeit von der UN in Haiti als Trainingsorganisation für den heilsamen und kindgerechten Umgang mit Kindern in Katastrophensituationen anerkannt.
»Mir geht es sehr gut! Ich darf leben!«
Über 1200 Kinder konnten wir in drei Straßenlagern und sechs Waisenhäusern durch die Monate begleiten. Die allermeisten von ihnen zeigten zu Beginn unserer Tätigkeit typische posttraumatische Symptome wie ungewöhnliche Reizbarkeit, Aggression, Konzentrationsschwierigkeiten, Schlaflosigkeit oder Apathie. Diesen Kindern dabei zu helfen, aus der Lähmung, aus Wut und Trauer in eigenes kreatives Tun zurückzufinden, die eigene Phantasie und innere Ruhe wiederzuentdecken, hatten wir uns zur Aufgabe gemacht. Heute, nach sechs Monaten gemeinsamer Arbeit, können wir sagen, dass es uns gelungen ist, diese Aufgabe zu lösen. Apathische Kinder, wie sie in der zu Beginn geschilderten Kinderambulanz zu Hunderten täglich zu sehen waren, sind unter den von uns betreuten Kindern nicht mehr zu finden. Die Kinder sind weniger aggressiv als im April, ihre Aufnahmefähigkeit hat sich gebessert. Die Atmosphäre beim gemeinsamen Spiel ist freudig, freundschaftlich und heiter. All dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass für die von uns begleiteten Kinder nun alles »einfach und gut« ist. Der Lebensalltag Haitis ist nach wie vor schwer. Aber wir konnten den Kindern dabei helfen, seelisch wieder aufzustehen, um in einer harten Umwelt weiter ihren Weg zu gehen. Mit welcher Würde und mit welcher Lebenskraft viele Haitianer dies tun, ist bewundernswert. Sehr häufig hört man auf die Frage »Wie geht es Dir?« ein »Mir geht es sehr gut! Ich darf leben!«