Ausgabe 09/24

Keine Angst vor dem Scheinriesen

Anne Brockmann

In der Erinnerung von Dirk Rohde ist alles noch ganz lebendig: «Als 2001 die Ergebnisse der ersten Pisa-Studie, die ein Jahr zuvor durchgeführt wurde, herauskamen, verursachte das ein ungeheures Beben in der Bildungslandschaft Deutschlands.» Dirk Rohde ist inzwischen pensionierter Waldorflehrer für Biologie und Dozent für Erziehungswissenschaften an der Alanus Hochschule in Alfter. Als Lehrer, der seine Tätigkeit zunehmend auch mit Lehre und Forschung verknüpft hat, war er an der internationalen Leistungsstudie entsprechend interessiert. Und es dauerte nicht lange, da war er auch selbst von den Konsequenzen, die die einzelnen Bundesländer daraus zogen, betroffen. Die Leistungen der deutschen Schüler:innen hatten in den Bereichen Lesekompetenz, Mathematik und Naturwissenschaften unter dem OECD-Durchschnitt gelegen. In der Folge wurden Schritt für Schritt nationale Bildungsstandards eingeführt. Am Ende des Schuljahres 2006/2007 legten die Abiturient:innen in Hessen, wo Rohde bis 2021 unterrichtete, im schriftlichen Bereich erstmals landesweit einheitliche Prüfungen ab.

Rohdes Fachbereich sind die Naturwissenschaften. Und er räumt ein, dass auch er zunächst verunsichert war und Zweifel hatte, ob die hessischen Waldorfschüler:innen die Aufgabenstellungen bewältigen würden, als er die Details des geplanten Zentralabiturs erfuhr. Rohde weiß: «Vielerorts wird die Waldorfschule noch heute als eine Schule verkannt, in der es hauptsächlich darum geht, dass die Kinder sich wohlfühlen und vor allem künstlerisch arbeiten. Stattdessen steht insbesondere die Individualisierung des Unterrichts im Fokus. Deshalb missfiel mir der Gedanke an einheitliche Prüfungen. Eine Vorbereitung darauf stand eigentlich im Widerspruch zu unserem Selbstverständnis als Waldorflehrer:innen und unseren Unterrichtszielen. Zugleich wollten wir natürlich, dass unsere Schüler:innen zu guten Ergebnissen kommen.» Um es vorwegzunehmen: Die Sorge war unbegründet. Die Abiturdurchschnittsnoten der hessischen Waldorfschüler:innen fallen nach den seit 2007 erhobenen Daten tendenziell sogar besser aus als die des gesamten hessischen Abiturjahrgangs. Für das Fach Biologie ergab Rohdes Untersuchung, die die Jahre von 2009 bis 2013 in den Blick nahm, Ähnliches. Und auch die Tatsache, dass bundesweit die Anzahl der Schüler:innen eines Jahrgangs, die das Abitur erlangen, an Waldorfschulen etwa doppelt so hoch ist wie an Regelschulen, sollte die Angst vor den Abiturprüfungen merklich reduzieren. Wie aber kommen solche Ergebnisse zustande, wo es doch in Waldorfschulen in der gesamten Sekundarstufe I keine gezielte Vorbereitung auf die Prüfungen am Ende der Sekundarstufe II gibt? «Das ist nicht leicht zu verstehen», fand Rohde und wollte es deshalb genauer wissen. Mit seiner Arbeit zum Thema hat er schließlich auch die Qualifikation für seine Universitätsprofessur erlangt.

Das Ergebnis seiner Untersuchungen heißt «Waldorfschulen und das Landesabitur – Eine vergleichende Studie am Beispiel des Leistungsfaches Biologie in Hessen» und ist 2022 im Beltz Juventa Verlag erschienen. Einer, der sich ausgiebig mit Rohdes Werk beschäftigt hat, ist Albrecht Schad. Er ist Biologe, Geologe und Waldorflehrer in der Oberstufe der Freien Waldorfschule Uhlandshöhe Stuttgart. Außerdem ist er Professor an der Freien Hochschule Stuttgart. «Für die Außendarstellung und die gesellschaftliche Akzeptanz der Waldorfschulen ist die Fragestellung, ob man gerade mit Blick auf das Abitur als höchstem Bildungsabschluss zu gleichwertigen Ergebnissen kommt, besonders wichtig», meint Schad. Schließlich sei der Schulabschluss für die meisten Schüler:innen sehr bedeutsam für die nachschulischen Bildungsabschlüsse. Die Waldorfpädagogik biete laut Schad eine ganz eigene pädagogische Orientierung in Bezug auf Formen und Inhalte an. «Dirk Rohde arbeitet heraus, dass im Fach Biologie im Lehrplan und methodisch in der Sekundarstufe I eigene Akzente gesetzt werden. Das Konzept der Klassenlehrkraft bedeutet zum Beispiel, dass häufig fachfremd unterrichtet wird. Daraus könnte ein Nachteil für die Waldorfschüler:innen abgeleitet werden», fasst Schad eine These von Rohde zusammen. Dass dem nicht so ist, konnte Rohde rasch eruieren. Wie aber gelingt es Waldorfschüler:innen, definitiv vorhandene Wissenslücken aus der Mittelstufe in der Oberstufe zu kompensieren?

Eine Hypothese, die Rohde eine Zeit lang verfolgte, war der sozio-ökonomische Hintergrund der Waldorfschüler:innen. «Wir wissen längst, dass der Großteil unserer Schüler:innen aus dem sogenannten Bildungsbürgertum kommt, zu dem auch die meisten Gymnasiast:innen gehören. Und die soziale Herkunft hat in Deutschland bekanntermaßen leider noch einen sehr starken Einfluss auf den Bildungserfolg», erläutert Rohde. Auch diese Spur führte aber nicht zu einer abschließenden Erklärung.

Vielmehr stieß Rohde schließlich auf vier verschiedene Typen von Schüler:innenhabitus, die jeweils anders mit schulischen Anforderungen umgehen. Habitus sind in der Sozialwissenschaft Dispositionen, die dem sozialen Handeln eine einheitliche Struktur geben. Rohde ist auf der Grundlage von 72 Interviews mit Abiturient:innen zu diesem Ergebnis gelangt. Sowohl an Waldorfschulen als auch an Gymnasien überwiegt der sogenannte «kalkulatorische Habitus». Dieser Habitus orientiert sich an Kosten-Nutzen-Abwägungen, ist tendenziell selbstdiszipliniert und funktional und lernt weniger aus fachlicher Motiviertheit. Er folgt dem Prinzip, mit minimalem Aufwand das Bestmögliche zu erreichen. Dass dieser Typ auch an Waldorfschulen am verbreitetsten ist, wundert Schad nicht: «Die Form des Abiturs regt dazu möglicherweise eben an.» Neben dem kalkulatorischen Habitus hat Rohde noch den konfidenten, den kautiven und den tolerierenden Habitus gefunden. Schüler:innen mit konfidentem Habitus bringen ein echtes Interesse für die Sache mit und haben ein tiefes Vertrauen in das eigene Können. «Diese Schüler:innen sind oftmals so klug, dass sie das Abitur auch schon in der elften Klasse ablegen könnten. Sie liefern das Geforderte mit Leichtigkeit», beschreibt Rohde. Auch auf den konfidenten Schüler:innenhabitus entfällt in Waldorfschulen ein nennenswerter Anteil. Zugehörigen zum kautiven Habitus fällt es dagegen bedeutend schwerer, die Anforderungen zu erfüllen. Sie benötigen fortwährende Unterstützung, derer sie sich immer wieder vergewissern.
Dem Ziel, einen bestimmten Bildungsabschluss zu erreichen, ordnen sie eigene Bedürfnisse unter. Schüler:innen mit tolerierendem Habitus quälen sich eher durch die Schulzeit. Widrige Umstände nehmen sie hin, drohen dennoch immer wieder zu scheitern und können nur mit Mühe leisten, was von ihnen verlangt wird. Diese vier Typen decken sich in weiten Teilen mit insgesamt sieben anderslautenden, die die Erziehungswissenschaftler Rolf-Torsten Kramer und Werner Helsper schon in früheren Jahren beschrieben haben. «Ein eigener Waldorfschüler:innenhabitus ließ sich im Umgang mit den Prüfungsanforderungen des Landesabiturs nicht nachweisen», hält Rohde fest. Auch das war eine Hypothese gewesen. Hingegen lässt sich begründet vermuten, dass die Ausprägung eines Habitus mit der individuellen körperlichen, seelischen und geistigen Reifeentwicklung in Zusammenhang steht. Dass sich der kalkulatorische Schüler:innenhabitus auch an einer Schule herausbildet, die viele Jahre lang keine Noten vergibt, deutet darauf hin, dass diese Habitualisierung durch andere schulische Anreizsysteme und/oder nur zum Teil innerschulisch geschieht. Die Zusammenhänge genauer zu beschreiben, würde allerdings eine weitere Forschungsarbeit voraussetzen.

Die wichtigste Erkenntnis, die Rohde selbst aus seinen bisherigen Untersuchungen und dem daraus entstandenen Werk zieht: «Das Landesabitur, vor dem wir anfangs Bedenken hatten und das uns zuweilen durchaus Bauchschmerzen gemacht hat, ist ein Scheinriese, mit dem es unsere Schüler:innen problemlos aufnehmen können.»

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