Kerstin Minder: Herr Steinwachs, Sie sind jetzt für den Bund der Freien Waldorfschulen bundesweit als Koordinator für Demokratische Kultur und Schule verantwortlich. Ihre Fachstelle befasst sich mit Antisemitismus, Extremismus, rassistischen und weiteren Formen von Diskriminierung. Was genau ist Ihre Aufgabe?
Frank Steinwachs: Die Fachstelle ist eine unmittelbare Anlaufstelle in Problemsituationen und wir machen inhaltliche Angebote für langfristige Projekte direkt für die Schulen. Das Ziel liegt darin, antidemokratischen, rassistischen und autoritären Tendenzen zu begegnen und die Qualität einer pluralen, lebendigen und menschenfreundlichen Gesellschaft zu fördern. Es ist aber nicht allein meine Aufgabe: Einmal gibt es weitere Kolleg:innen, mit denen ich eng zusammenarbeite, und es bedarf einer Schulgemeinschaft, die sowohl in den Schulen wie auch überregional Ideen und Aktivitäten austauscht und durchführt. Aus diesem Grund bin ich nicht die Fachstelle, sondern ihr Koordinator. Ich verstehe meine Aufgabe als die eines Vernetzenden.
KM: Warum ist diese Aufgabe gerade so wichtig?
Bereits lange vor der Corona-Pandemie gab es immer wieder Fälle, in denen Menschen aus Rechten oder völkischen Gruppierungen ihre Kinder an der Waldorfschule anmeldeten, vor allem im ländlichen Raum. Während der Pandemie ist dann noch deutlicher geworden, dass es Eltern gibt, die ihre Kinder an Waldorfschulen schicken, nicht weil sie die Waldorfpädagogik schätzen, sondern weil sie diese mit ihrer vielfach verschwörungsmythischen Weltsicht zu synchronisieren suchten. Das traf auch auf einige wenige, während Corona jedoch sehr laute und medienwirksame, Kolleg:innen zu, deren Intention an die Waldorfschule zu gehen eben nicht in der Waldorfpädagogik und ihrer Ethik lag, sondern in der radikalen Ablehnung des Systems – ohne zu benennen, was damit wirklich gemeint ist. Beratung zu solchen Fällen gab es schon immer. Aus einer Arbeitsgruppe gegen Rechtsradikalismus der Landesarbeitsgemeinschaft der Waldorfschulen in Nordrhein-Westfalen kam schon 2019 der Impuls, dass es ein solches Angebot auch auf Bundesebene geben sollte.
Kurz danach begann die Pandemie. Von da an liefen die Email-Postfächer unserer Beratungsstellen voll. Es zeichnete sich ab, dass an einzelnen Schulen zum Teil sehr kleine aber aggressive Gruppen von Eltern (im Einzelfall auch Kolleg:innen) die Säulen unserer Demokratie offen und aggressiv in Frage stellten und sogar ihre eigenen und andere Kinder für ihre politische Motive missbrauchten. Das zeigte sich vor allem in der Maskenfrage und in dem Versuch, verantwortliche Institutionen als solche zu diskreditieren. Die autoritären, antidemokratischen und menschenfeindlichen Tendenzen, die im gesellschaftlichen und politischen Raum hörbar wurden, machten also auch an den Schulgrundstücken unserer Waldorfschulen nicht Halt. Aus dem Umfeld der AfD und der Querdenkerbewegung sowie aus angrenzenden rechtsradikalen Gruppen waren gezielte Unterwanderungsstrategien in Richtung einzelner Waldorfschulen erkennbar, so dass einzelne Schulen sehr herausgefordert waren, geeignete Abwehrstrategien zu entwickeln.
KM: Gibt es an den Waldorfschulen insgesamt eine negative Entwicklung, also mehr Vorfälle oder eher eine höhere Sensibilität für das Thema?
FS: Wir haben in den letzten Jahren eine sensiblere Wahrnehmung entwickelt, und gehen das Problem Rechtsextremismus und neurechte Strömungen offensiv an. Hierzu gehört einmal die Arbeit des Dachverbandes, die sich auch – aber nicht nur – in den Arbeitskreisen offene Gesellschaft und in meiner Stelle manifestiert. Auf der anderen Seite stehen die Schulen in ihrer Autonomie, in die der Dachverband nicht so ohne weiteres eingreifen will und kann. Es ist zu beobachten, dass die Sichtbarwerdung rechter und neurechter Gruppen, Ideologien und Narrativen wie in der gesamten Gesellschaft auch an Waldorfschulen zunimmt.
Unsere Arbeit ist extrem wichtig, da es an einzelnen Einrichtungen, Kindergärten wie Schulen, immer wieder Probleme gibt mit Eltern aus diesem Spektrum, die sich in der Selbstverwaltung bis hin zum Vorstand gerne einbringen. Und diese Gruppen gehen, wie ich schon angedeutet habe, sehr geschickt vor, weil sie sich nicht zu erkennen geben, sondern als freundlich, helfende Miteltern auftreten und so Plattformen schaffen, ohne die eigene Ideologie zu präsentieren – das läuft dann eher unterschwellig.
KM: Was können wir als einzelne, als Schule und Schulgemeinschaft zu dem Thema beitragen?
FS: Wichtig ist es erst einmal, dass die Kollegien, Eltern und Schüler:innen wach sind und die Strukturen, Argumente und Strategien neurechter und völkisch-nazistischer Gruppen kennen. Mit einer guten Aufklärung laufen Kolleg:innen, Eltern und Schüler:innen nicht so schnell Gefahr, dass sich an der Schule Gruppen breit machen, die tatsächlich eine menschenverachtende und destruktive Ideologie in sich tragen. Dadurch werden die Ideale der Waldorfpädagogik, die Erziehung zur Freiheit und die Begleitung zu einem Ethischen Individualismus ja ins genaue Gegenteil verkehrt und Waldorfpädagogik unmöglich gemacht. Es ist wichtig, dass wir da klare Grenzen ziehen. Wir dürfen keine naiv-gutgemeinten Zugeständnisse an vermeintlich «andere Meinungen» machen, die in Wahrheit Teil einer sehr geschickten Graswurzel-Propagandastrategie sind. Wichtig ist auch, nicht erst zu warten, bis etwas sichtbar wird oder es Vorfälle gibt, sondern auch präventiv zu arbeiten und dadurch ein klares Signal nach außen zu richten: Wir sind eine Waldorfschule und kein Ort oder Tummelplatz für weltanschauliche und religiöse Extremisten, Neurechte, Identitäre, völkisch-nazistische Gruppen oder Menschen, deren Weltbilder sich aus abstrusen Verschwörungsmythen zusammensetzt.
Es gibt an den Schulen sehr unterschiedliche Situationen. Immer mehr Schulen werden Teil des Netzwerkes Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage oder haben Arbeitskreise, die sich explizit mit rechten Gruppen beschäftigen und Aufklärung betreiben. Andere halten sich eher bedeckt. Ein Kollege sagte mir einmal über die Strategie seiner Schule, dass sie die Arbeit gegen lebendig umgekehrt haben in eine Arbeit für etwas. «Wir feiern Vielfalt, eine offene Gesellschaft, leben Gleichberechtigung, und freuen uns am Miteinander». Gleichzeitig müssen wir uns gegenüber einer neurechten oder völkisch-nazistischen Ideologie deutlich abgrenzen, zum Beispiel durch ein Leitbild, die Schulordnung und unsere Vereinssatzung. Es gibt nämlich auch rechtliche Möglichkeiten, sich zu schützen.
KM: Noch eine Frage zum Schluss: wie sieht es eigentlich mit linkem Extremismus aus an den Schulen aus?
FS: Ich wurde einmal mit in einem Kollegen von einer Schulleitung und dem Vorstand eingeladen und sollte zur Anastasiabewegung beraten. Die erste Frage des Elternvertreters war: «Was tut der Bund denn eigentlich gegen Linksextremisten?» Dieser typische, neurechte Haltungen relativierende Satz taucht immer wieder mal auf und bedarf einer klaren Entgegnung: Ich habe darauf hingewiesen, dass Linksextremismus an dieser Schule ja kein Problem sei, sonst wären wir zu diesem Thema eingeladen worden und nicht zum Umgang mit der Anastaisabewegung. Tatsächlich haben wir bisher noch nie eine Anfrage wegen linksextremer Gruppen oder Eltern bekommen. Und das hat einen simplen Grund: Für die extreme Linke und ihre ideologischen Vorbehalte gegenüber der Waldorfpädagogik und der Anthroposophie sind Waldorfschulen per se verdächtig, nah an oder gar in der rechten Szene zu stehen. Das aus den 1980er Jahren stammende Diktum von Jutta Ditfurth aus der linksokölogischen Szene «Alle Anthroposophen sind Faschisten» zeigt, dass die Waldorfpädagogik ein Problem mit der radikalen Linken und auch immer wieder mit Antifa-Gruppen hat, aber eben nicht von innen, sondern von außen. Das ist bei Rechten völlig anders.
KM: Danke für das Gespräch!
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