Ausgabe 05/24

Kinderarmut in Deutschland

Melia Felgenhauer

Eine Mutter mit zwei kleinen Kindern betritt morgens das Büro, in dem ich seit eineinhalb Wochen als Praktikantin tätig bin. Mit sich bringt sie eine große Plastiktüte voller Briefe und Unterlagen, die sie seit ihrer Ankunft in Deutschland vom Jobcenter, der Ausländerbehörde und der Familienkasse erhalten hat. Sie spricht kein Deutsch und ist auf Hilfe angewiesen, um die Anträge zu beantworten. Ohne diese stünde sie ohne Wohnung, ohne Kindergarten- und Schulplätze und Verpflegung für sich und ihre Kinder da.

Mit dem Thema «Armut und Familien in herausfordernden Lebenslagen» kam ich durch mein Sozialpraktikum in der elften Klasse in Berührung. Ich arbeitete fünf Wochen lang in einem Kindergarten in einem Stadtteil Potsdams, in dem sich Armut und Migration auf engem Raum konzentrieren. Ich kam dabei mit belasteten Eltern, herausfordernden Kindern und überforderten Pädagog:innen in Berührung.

Um mein Verständnis für die Hintergründe zu vertiefen, wählte ich für meine Jahresarbeit in der zwölften Klasse das Thema «Erscheinungsformen und Ursachen von Kinderarmut in Deutschland». Ich beschäftigte mich mit den Auswirkungen belastender Lebenslagen auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen sowie mit Klassismus – der mit Benachteiligungen einhergehenden Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft. Meinen Schwerpunkt legte ich auf mögliche Ansatzpunkte, um die negativen Folgen für Kinder und Jugendliche im Rahmen verschiedener Handlungsfelder zu vermeiden beziehungsweise zu verringern.

Aus aktuellen Forschungsergebnissen wie etwa von der Bertelsmann-Stiftung wissen wir, dass hierzulande jedes fünfte Kind in Armut aufwächst. Das sind ungefähr 2,8 Millionen Menschen unter 18 Jahren und diese Zahl steigt stetig an (Bertelsmann-Stiftung 2020). Die sogenannte relative Armut in Deutschland bemisst sich unter anderem an der sogenannten Armutsgrenze: Wenn ein Haushalt in Deutschland weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Nettoeinkommens zur Verfügung hat, das sind 2023 rund 1500 Euro, gilt er offiziell als armutsgefährdet. Kinderarmut ist immer Familienarmut, denn Armut vererbt sich. Die lebenslange Armut wirkt sich auf verschiedenen Ebenen auf die kindliche Entwicklung aus und verfestigt sich dadurch. Die einzelnen Dimensionen der Beeinträchtigungen sind die soziale (soziale Integration, Kontakte, soziale Kompetenzen), die kulturelle (Bildung, Arbeits- und Sprachverhalten), die materielle (Wohnen, Nahrung, Kleider) und die gesundheitliche (psychischer und physischer Gesundheitszustand, körperliche Entwicklung).

Diese primären Herkunftseffekte wirken sich in hohem Maße auf den Bildungsweg aus. So sind armutsgefährdete Kinder von vornherein benachteiligt, wenn die Schule Kompetenzen voraussetzt, über die nicht alle Kinder gleichermaßen verfügen. Diese ungleichen Startbedingungen, wie die sprachliche Entwicklung, werden in den Leistungsanforderungen ignoriert, wodurch sich der soziale Status ungebremst auf den Bildungserfolg auswirkt, sich reproduziert und somit zu Bildungsbenachteiligung und in der Folge zu ungleichen Lebenschancen führt. Das Bildungssystem in Deutschland selektiert stark nach sozialer Herkunft, beispielsweise erhalten Jugendliche in Armutslagen seltener eine Gymnasialempfehlung – auch bei gleichen schulischen Leistungen. Die soziale Benachteiligung manifestiert sich dann in Form von Bildungsabschlüssen, die den Eindruck erwecken, die betroffenen Kinder und Jugendlichen hätten diesen selbst aufgrund ihrer Leistungsfähigkeit erworben beziehungsweise nicht erworben. Daraufhin müssen sie die Folgen ihrer Herkunft selbst verantworten. Klassismus verwandelt nämlich soziale Unterschiede in vermeintlich persönliche Eigenschaften und damit wird den Menschen für ihre Lebenslage selbst die Verantwortung zugeschrieben. Der Mensch sei laut dieser Ideologie selbst für seinen Erfolg oder eben Misserfolg verantwortlich, die prekäre Lage wäre somit nur das Resultat seiner eigenen Leistung. Dabei zeigen die Befunde, dass der soziale Status sich vererbt.

Pädagogische Handlungsmöglichkeiten
 

Diese uneinheitlichen Startbedingungen von Kindern und Jugendlichen lassen sich nicht durch den Unterricht ausgleichen, denn am meisten unterscheiden sich die Kinder in ihrer Lebenswelt und ihrem Erfahrungshorizont. Um Chancengerechtigkeit zu ermöglichen und allen Kindern, unabhängig vom sozialen Status oder der Herkunft, das Recht zu gewähren, ihr Potenzial zu entfalten, bräuchte es einen ausgebauten Ganztagsbereich mit einem multiprofessionellen Team aus Bereichen wie Gesundheit, sozialer Arbeit, Kunst und Kultur. Denn auch bei den außerschulischen Aktivitäten und Hobbys sind Familien in Armutslagen eingeschränkt. Hier könnte der Ganztag der Ort sein, der allen Kindern unabhängig von ihren finanziellen Ressourcen einen Zugang zu Sport-, Kultur- und Musikangeboten eröffnet und wo alle Kinder ihre Interessen und Talente entdecken können. Der Ausbau des Ganztages kann also nicht nur die persönlichen Fähigkeiten der Kinder und Jugendlichen fördern, sondern entlastet außerdem die oft in Vollzeit arbeitenden Eltern, wovon viele auch alleinerziehend sind. Die Fachkräfte könnten alle Kinder dort abholen, wo sie stehen, individuell fördern und begleiten. In großen Klassen mit einer Lehrkraft ist das herausfordernd bis unmöglich – erst durch mehrere Lehrkräfte, also Teamteaching, eröffnen sich Chancen für die individuelle Begleitung und Förderung. Um die Benachteiligungen und Defizite armutsbetroffener Kinder zu kompensieren, braucht es bei allen Fachkräften, sei es in der Kita, im Hort oder in der Schule, eine Sensibilisierung und Aufklärung über die Ursachen, Anlässe und die Folgen dieser Lebenslage, sodass jede Fachkraft die eigenen Vorurteile und Klischees gegenüber Menschen in einer Armutslage reflektieren und abbauen kann. Denn Armut ist ein strukturelles Problem, das in der ungleichen Verteilung von Ressourcen wurzelt und nicht auf persönliche Eigenschaften, Handlungen oder Leistungen eines Menschen zurückzuführen ist.

Politische Handlungsmöglichkeiten
 

Ein Vorschlag, um der Kinderarmut präventiv entgegenzuwirken, ist die sogenannte Kindergrundsicherung, die schon seit Jahrzehnten von Sozialverbänden gefordert wurde. Diese im Sommer 2023 leider nur unzureichend eingeführte Leistung soll das soziokulturelle Existenzminimum von Familien absichern und unbürokratisch, automatisch und direkt an alle Familien in Deutschland ausgezahlt werden – mit realitätsnah ausgerechneten Bedürfnissen der Kinder. Damit soll nicht nur das materielle Existenzminimum (Wohnung, Nahrung, Kleidung) abgesichert sein, sondern auch Teilhabe- und Bildungschancen, ohne Scham und Stigmatisierung. Im Gesetzgebungsverfahren gab es eine Auseinandersetzung zwischen der grünen Familienministerium Lisa Paus und dem Finanzminister Christian Lindner (FDP) um die Umsetzung dieses Vorhabens aus dem Koalitionsvertrag. Der Hauptunterschied bestand darin, ob die neue Kindergrundsicherung lediglich eine Vereinfachung und Digitalisierung der Antragstellung herbeiführen sollte (FDP), oder ob der tatsächliche Regelsatz erhöht wird und damit wirksam vor Armut schützt (B90/GRÜNE).

Sozialverbände äußern sich enttäuscht über den nun erzielten Kompromiss. Statt einer bedarfsgerechten Verteilung der staatlichen Ressourcen, um allen Kindern gute Bedingungen des Aufwachsens zu ermöglichen, werden weiterhin viele Mittel nach dem Gießkannenprinzip verteilt. Das erhöhte Kindergeld von 250 Euro, das jedem Haushalt zusteht und damit auch wohlhabenden Familien zugutekommt, könnte stärker bedarfsgerecht eingesetzt werden. Denn die großen Ungleichheiten in Deutschland bestehen weniger bei den Einkommen als bei der Vermögensverteilung. Mit einem höheren Spitzensteuersatz, einer Vermögenssteuer und einer stärkeren Besteuerung der Erbschaften und Schenkungen etwa könnten Familien in Armutslagen finanziell stärker unterstützt werden. Sind wir als Solidargemeinschaft und als eines der reichsten Länder der Welt dazu bereit, jedem Kind ein würdevolles Leben zu ermöglichen?

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