Der Künstler Joseph Beuys prägte den Begriff der «Sozialen Plastik», um ein erweitertes Verständnis von Kunst zu etablieren, das ihr transformatives Potenzial betont. Diese «Soziale Plastik» umfasst menschliche Aktivitäten, die darauf abzielen, Gesellschaft und Umwelt aktiv zu gestalten. Doch bevor der Mensch sich der Aufgabe widmet, die Welt zu formen, muss er sich darüber im Klaren sein, dass er selbst ein Teil dieser Welt ist. Jeder Mensch trägt tief verwurzelte Konditionierungen, vererbte Muster und mentale Rahmenbedingungen in sich, die seinen Handlungsspielraum beeinflussen. Vieles davon ist kaum bewusst, etwa die biografischen Prägungen und Bilder, die unmerklich Interaktionen und Wahrnehmungen dominieren. Wenn wir Teil der Welt sind, dann sind wir sowohl Gestalter:innen als auch Form. Diese wechselseitige Beziehung eröffnet den Raum für das soziale Plastizieren als bewusste Praxis.
Die Praxis
Im Rahmen von Zukunft.Machen, einer der vier Qualitätsinitiativen des Bundes der Freien Waldorfschulen, wurde die Praxis des sozialen Plastizierens in verschiedenen Workshops erprobt und weiterentwickelt. Dieser Ansatz, der nun auch im Berliner Seminar für Waldorfpädagogik angewendet wird, besteht aus verschiedenen Gruppenübungen mit Ton. Die Teilnehmer:innen arbeiten innerhalb eines strukturierten Rahmens an gemeinsamen kreativen Prozessen. Ziel dieser Praxis ist es, das Verhältnis zwischen individueller und kollektiver Gestaltung zu erforschen. Die Arbeit mit Ton fokussiert sich auf zwei Ebenen: Die eine ist rein formal, die andere sozial. Formal geht es um die Gestaltung des Materials, sozial um die Dynamik der Zusammenarbeit. Die Teilnehmenden begeben sich in performative Situationen, in denen sie ihr Handeln kontinuierlich abwägen und versuchen, eine gemeinsame Sprache zu finden. Die Übungen reichen von der Bildung einer Mauer zwischen zwei Menschen mit geschlossenen Augen – ohne verbale Kommunikation und deren Überwindung, um den anderen zu finden – über die kollektive Arbeit an der Entwicklung einer Skulptur bis hin zur Gestaltung von unterschiedlichen Formen, und dem gemeinsamen Schaffen von Übergangsformen, die einen Fluss zwischen ihnen erzeugen. Wenn ich mit geschlossenen Augen eine Mauer aus Ton überwinden muss, um dich zu finden, was ist dann mein erster Impuls? Soll ich einen Tunnel durch die Mauer graben? Oder ertaste ich sorgsam die Ränder, um eine Möglichkeit der Begegnung zu schaffen? Solche Entscheidungen spiegeln individuelles Handeln und die soziale Dynamik wider. Wenn zwei Kräfte, die in entgegengesetzte Richtungen wirken, an einer Tongrenze aufeinandertreffen, gibt der Ton nach. Dank seiner Formbarkeit absorbiert und reflektiert das Material die Impulse der Beteiligten und wird so zu einem sichtbaren Ausdruck ihres Dialogs. In diesem Prozess verschwimmen die Grenzen zwischen den Individuen. Die Aktionen beider Menschen verschmelzen zu einer einzigen, Pläne verändern sich, neue Möglichkeiten entstehen, und das in jedem Moment. Keine Handlung oder Form ist per se richtig oder falsch; erst der Kontext und der Moment offenbaren ihre Angemessenheit. Diese Einsicht eröffnet einen Zustand der Präsenz, in dem die Akteur:innen allmählich von Gestaltenden zu Zeug:innen des Prozesses werden. Was wir in der Regel feststellen, ist, dass es Dinge gibt, die wir immer wiederholen und Dinge, die wir nie tun, weil wir sie vermeiden. Dieses Immer und dieses Nie sind symptomatisch für ein eingebautes Urteil über unsere Spontaneität. Dies ist der Kern der Praxis: Das bewusste Wahrnehmen und Zulassen von Veränderungen.
Impuls und Form
Wenn die Teilnehmenden sich vom Ton trennen, verliert er die Wärme der Hände und ohne die Feuchtigkeit des Wassers trocknet er aus. Die Form wird starr – die Plastizität ist nicht mehr vorhanden. Die Skulptur hat dann Eigenschaften, die dem Bild nahekommen. Ein Bild jedoch ist unbeweglich und begrenzt; es repräsentiert die Vergangenheit, die auf die Gegenwart trifft. Um den Ton wiederzubeleben, müssen wir ihm seine Flexibilität, sein Wasser zurückgeben. Andernfalls wären wir der Form unterworfen. Die Form wird zu einer formalistischen Tradition, wenn wir darin einschlafen und sie mit den Impulsen verwechseln, die sie hervorgebracht haben. Mit Ton zu arbeiten bedeutet, zu Ton zu werden, oder besser gesagt, sich an den Ton zu erinnern, der wir sind, uns in unserer Flexibilität wieder zu erleben.
Die Waldorfpädagogik mit ihrer Wurzel in der intensiven Beobachtung des menschlichen Wesens und ihrer von Vorstellungskraft geprägten Herangehensweise begleitet junge Menschen darin, das Leben zu entdecken und die Welt aktiv mitzugestalten. Diese Pädagogik kann selbst auf ihren Prinzipien stehen und sich gleichzeitig in jeder Form, jedem Bild, jeder Eigenschaft infrage stellen. Denn alles Lebendige hat die Fähigkeit, sich nach innen zu wenden, Raum für Veränderung zu schaffen und sich an neue Gegebenheiten anzupassen. Wir müssen erkennen, wann eine ererbte Form gut war, aber von einem Paradigmenwechsel überholt wird, und wann es notwendig ist, etwas Neues zu schaffen, um auf neue gesellschaftliche Herausforderungen zu reagieren.
Die Frage nach Stabilität in einem ständigen Wandel beantwortet sich im Herzen. Es ist der Ort, an dem die notwendige Alchemie geschieht, in der der ersehnte dritte Raum entstehen kann.
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