Krasse Eurythmie

Martin Zabel

Eurythmie wird von Waldorfschülern oft als ein – mehr oder weniger beliebtes – Bewegungsfach angesehen, das einen gewissen Ausgleich zum häufigen Sitzen in den anderen Fächern bieten soll. Bei Gesprächen mit Oberstufenklassen und Eltern, in denen eine tiefere Wirksamkeit der Eurythmie angesprochen wird, erntet man eher Unverständnis. Es ist auch aus dem alltäglichen Erleben heraus schwer vorstellbar, dass scheinbar einfache Bewegungen eine tiefgreifende, ausgleichende und sogar heilende Wirkung auf den Menschen haben sollen. Wenn zum Beispiel Schüler vor und nach dem Ausführen der Eurythmie-Stabübungen in einem Fragebogen niederschreiben sollten, wie sich ihr Wohlbefinden verändert hat, zeigte sich, wie schwer es ihnen fiel, ihre subjektiven Wahrnehmungen ernstzunehmen. Dadurch kam ich auf die Idee, den Versuch von Tanja Baumgartner, wie er im Rundbrief Nr. 63 der Sektion für Redende und Musizierende Künste am Goetheanum beschrieben wird, selbst durchzuführen.

Behandlung durch Eurythmie

Da wir in der Zeit vor dem Eurythmieabschluss eine Hauptunterrichtsepoche für die Vorbereitung zur Verfügung hatten, nutzten wir diesen Zeitraum. Die Kressesamen (Bingenheimer Saatgut, Demeter »Einfache Kresse«) wurden auf vier Glasschalen verteilt und jede Schale mit einem eurythmischen Laut behandelt. Zusätzlich gab es Kontrollschalen, die nicht behandelt wurden. Die Schalen waren jeweils unten beschriftet.

Die Laute waren:

L: Das innere Bild für die Schüler hierzu sollte etwas wie ein »Lichtspringbrunnen« sein; das vorgestellte, zähflüssige Licht wurde ergriffen, emporgehoben und durfte dann seitlich wieder absinken.

B: Durch den Laut wurden »Lichtkuppeln« wie Zwiebelschalen um die Probe gebildet.

K: Durch das eurythmische K wurden »Lichtimpulse« auf die Samen geschickt.

So behandelten wir jeden Morgen drei unterschiedliche Proben in verschiedener Reihenfolge, aber immer nach dem gleichen Ablauf: Die Probe wurde aus dem Nebenraum geholt und mitten in den Eurythmiesaal gestellt. Die Klasse bildete mit dem Lehrer einen großen Kreis und machte gemeinsam einmal die eurythmische Übung »Ich denke die Rede ...« Alle gingen näher an die Probe heran, knieten oder beugten sich herunter. Die Stoppuhr mit dem Countdown von fünf Minuten wurde aktiviert. Der entsprechende Laut der jeweiligen Probe wurde zunächst in einem engen Kreis gemeinsam klein ausgeführt. Der nächste Laut war dann ein bisschen größer und der Kreis weitete sich etwas. Bis schließlich alle außen im Saal standen und ganz große Laute machten. Alle gingen wieder hinein in den engen Kreis und fingen mit dem kleinen Laut erneut an. Diese Übung wurde so lange gemacht, bis der Wecker klingelte. Die Schüler konnten sich nun wieder hinsetzen. Nach einer kurzen Wartezeit wurden die Fenster geöffnet, die behandelte Probe in den Nebenraum gebracht und mit einer nächsten Probe fing es wieder bei »Schritt 1« an.

Nachdem alle drei Proben behandelt worden waren, wurde die Kontrollgruppe hereingeholt, an den gleichen Platz gelegt, aber es wurde keine Eurythmie gemacht. Im Anschluss wurden alle Proben ins Lehrerzimmer gebracht, wo sie bis zum nächsten Tag unberührt blieben. Diesen Ablauf haben wir vier Tage lang durchgeführt. Es folgten die zweiwöchigen Pfingstferien. Gleich nach den Ferien wurde die Kresse auf normaler Blumenerde in gleiche Schalen ausgesät. Von jetzt an wurde zwischen Schritt eins und zwei die Kresse gegossen, der Rest blieb gleich.

So ging es wieder vier Tage lang. Am zweiten Tag begann die Kresse zu keimen, am dritten Tag konnte man Unterschiede zwischen den vier Proben erkennen. Während die »B-Kresse« noch zum größten Teil nicht aufgerichtet war und auch noch etwas gelblich wirkte, waren die anderen drei Proben schon aufgerichtet. Wobei die »L-Kresse« am größten, die »K-Kresse« an zweiter Stelle kam und beide auch schon grün waren. Die »Kontrollgruppe« war zwar aufgerichtet, aber wirkte auch noch etwas gelblich.

Dieses Bild zeigte sich auch an den folgenden Tagen. Die »B-Kresse« hinkte den anderen in der Entwicklung hinterher und war farblich immer etwas fahler.

Einfluss auf die Wachstumskräfte

Die Schüler konnten erleben, dass die gemeinsame Eurythmie – ohne dass die Samen oder Pflänzchen berührt worden waren – Einfluss auf das Wachstum hatte. Der Kresse konnte nicht nachgesagt werden, dass sie ihr Wachstum irgendwelchen Erwartungen angepasst hätte, sondern durch die Eurythmie wurde offensichtlich das Keimen verändert, da alle anderen Gegebenheiten für die einzelnen Proben gleich waren. Anthroposophisch gesprochen konnten wir mit diesem Versuch zeigen, dass die eurythmische Bewegung mehr als nur eine physische ist, dass sie auch mit Lebenskräften (ätherischen Kräften) erfüllt wird. Diese Kräfte sind offensichtlich so stark, dass sie Einfluss auf die Wachstumskräfte, also auf den Ätherleib der Kressepflanzen haben und dadurch das Wachstum fördern (K und noch stärker L) oder hemmen (B).

Betrachtet man diesen Versuch als rein physisches Ereignis, kann man sich schwer vorstellen, dass das Wachstum aufgrund kleinerer Luftbewegungen (die durch die Eurythmielaute verursacht wurden) in einem solchen Maß verändert würde. Denn äußerlich gesehen haben wir nichts Anderes getan, als die Luft mit unseren Lauten bewegt.

So entstand in den Schülern doch ein Gefühl, dass hinter der Eurythmie wohl noch mehr steckt, als man im Allgemeinen denken würde.

Zum Autor: Martin Zabel ist Klassen- und Eurythmielehrer an der Freien Waldorfschule Freudenstadt.

https://srmk.goetheanum.org/fileadmin/srmk/XRBRD/RbD63.pdf