In Bewegung

Kultur der Religionen. Ein Projekt für Verständigung

Andrea Setzer-Blonski

Wie wird heute Waldorfpädagogik gelebt und unterrichtet? Wird Rücksicht genommen auf die immer vielfältiger werdende Gesellschaft? Wie begegnen wir Menschen verschiedener Länder, Kulturen und Religionen?

Wir erleben zunehmend eine hasserfüllte Gewaltbereitschaft, die durch religiösen Fanatismus auf der einen und angsterfüllte Ignoranz auf der anderen Seite genährt wird. Die große Fluchtmigration 2015/16 und der wachsende Antisemitismus haben diese Tendenz verschärft; damit ist der Bedarf an Verständnis für Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen enorm angestiegen. Die Rolle der Religionen ist dabei ambivalent: Sie können Halt geben und kulturelle Identität stiften, sie können aber auch zu Ausgrenzung und Konflikten führen, wenn sie aus Unkenntnis des Fremden nicht tolerant gelebt und Menschen aufgrund ihrer Religion oder Kultur diskriminiert werden. Hier setzt das Projekt Kultur der Religionen an.

Das Erleben und Verstehen anderer Kulturen schafft Vertrauen, hilft Vorurteile abzubauen und ein friedliches Zusammenleben zu fördern, ohne dabei die eigene Identität aufzugeben. Das Projekt Kultur der Religionen hat zum Ziel, Kinder, Jugendliche und Erwachsene die Schönheit der jüdischen, christlichen und muslimischen Kultur erleben zu lassen. Es ist ausdrücklich nicht bekenntnisorientiert. Alle lernen zusammen ihre jeweiligen Kulturen durch das gemeinsame Feiern von Festen kennen. Dabei stehen die Wahrnehmung und Stärkung der eigenen Identität zusammen mit der Wertschätzung der jeweils anderen Kultur im Vordergrund. Dazu gebe ich Workshops in Schulen von der dritten bis zur 13. Klasse, in Ausbildungsstätten und an Pädagogischen Hochschulen. Ich möchte alle Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen erreichen, nicht nur die, die von sich aus zu einer interkulturellen Veranstaltung gegangen wären.

Dazu eine kurze Erläuterung. Ich war 2003 im Gründungskollegium der Freien Interkulturellen Waldorfschule in Mannheim und habe dort 15 Jahre lang Musik unterrichtet. Ab der dritten Klasse feierte ich in der letzten Musikstunde vor Weihnachten Chanukka, das jüdische Lichterfest. Die Schüler:innen freuten sich jedes Jahr darauf. Einmal, in der sechsten Klasse, kam ein neuer Schüler in den Musikraum, und als er den schön gedeckten Tisch sah, mit der weißen Tischdecke, dem neunarmig Kerzenleuchter, dem jüdischen Kreisel Dreidl und Erdnüssen, verfinsterte sich sein Gesicht. «Was ist das? Was soll denn das?» rief er. Und auf meine Antwort hin meinte er noch: «Ich bin kein Jude, ich will das auf keinen Fall mitmachen!». Endlich setzte er sich mit verschränken Armen und verschlossener Miene hin, nachdem seine Klassenkameraden ihm versichert hatten, dass es schön sei, Chanukka zu feiern. Der Geschichte und den Liedern hörte er wahrscheinlich gar nicht richtig zu. Als dann alle aufstanden, um zum Lied «Oj Chanukka» zu tanzen, weigerte er sich: Er sei doch kein Mädchen und werde auf keinen Fall tanzen. Doch ein Junge neben ihm stieß ihn von der Seite an und sagte: «Komm, Du wirst sehen, das macht richtig Spaß!» Widerwillig stand er auf. Wir übten die Schritte für ihn erst langsam, dann wurden wir immer schneller und sangen dazu. Nach und nach hellte sich sein Gesicht auf, und sein Lächeln wurde immer größer. Danach saß er aufrecht auf seinem Stuhl, hörte aufmerksam der Dreidl-Legende zu und spielte mit großer Freude das Dreidl-Spiel mit den anderen.

Solch eine Entwicklung erlebe ich in meinen Workshops immer wieder. Jugendliche und Erwachsene, die zunächst skeptisch und verschlossen sind, beginnen sich zu öffnen, Fragen zu stellen und über sich zu erzählen. Solche Erlebnisse haben mich dazu gebracht, mein Projekt Kultur der Religionen zu erweitern und in die Öffentlichkeit zu tragen. Meine Motivation dabei ist es, dem wachsenden Rassismus, Antisemitismus und der Islamophobie zu begegnen sowie das Verständnis füreinander und ein harmonisches Miteinander von Menschen verschiedener Kulturen und Religionen zu fördern.

Dabei halte ich keine Vorträge über Rassismus, Erinnerungs- und Nie-Wieder-Kultur,  sondern versuche, durch positive Narrative die Schüler:innen die Schönheit und den Reichtum der jüdischen Kultur erleben zu lassen. Zumeist beginne ich mit einer kurzen Anmerkung zu meiner christlich-jüdischen Familienbiographie und schlage dann einen Bogen zu Menschen von heute mit einem Migrations- oder Fluchthintergrund. Danach behandle und feiere ich eines der jüdischen Feste – je nach gewünschtem Thema oder Jahreszeit. Auf der Grundlage erlebnispädagogischer Methoden werden möglichst viele Sinne angesprochen: Wir betrachten typische Gegenstände, kosten von charakteristischen Speisen, riechen, singen und tanzen, basteln und malen. Im interaktiven Dialog erzählen die Workshopteilnehmer:innen von ihrer eigenen Kultur und lassen sich durch meine und die Narrative der Kolleg:innen anregen.

Mehr Infos zu den Workshops von Andrea Setzer-Blonski: www.kultur-der-religionen.de

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