In Bewegung

Kultur des Hinschauens

Katrin Kühne

Gewalt und Missbrauch an Schulen und anderen pädagogischen Einrichtungen waren und sind oft noch Tabuthemen. Prof. Dr. Julia Gebrande von der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs hat auf der jüngst zurückliegenden Bildungsmesse didacta in Stuttgart Schulen einmal mehr dazu aufgefordert, mehr Offenheit gegenüber Betroffenen von insbesondere sexualisierter Gewalt zu zeigen: «Nur wenn eine Schule eine offene Haltung gegenüber Betroffenen zeigt, sich ihrer Geschichte stellt und Fälle aufarbeitet, kann sie heute und in der Zukunft für eine Kultur des Hinschauens sorgen, damit Missbrauch aufgedeckt wird oder gar nicht erst geschieht.»

Gemeinsam hinschauen

2020 hat sich der Bund der Freien Waldorfschulen (BdFWS) auf den Weg gemacht, eine solche Kultur des Hinschauens zu etablieren und seine Mitglieder dazu verpflichtet, Schutzkonzepte für die Prävention von Gewalt zu erarbeiten. Inzwischen können die meisten Waldorfschulen in Deutschland ein solches Konzept vorweisen, die restlichen sind noch im Arbeitsprozess. Der Weg dahin war aber für viele steinig und erforderte eine große Bereitschaft zur Selbstreflexion – auch ohne gravierende Vorfälle. «Wir mussten das Schutzkonzept zum Glück nicht aus der Not heraus erstellen», erzählt Magdalena Ehlen, Eurythmielehrerin an der Freien Waldorfschule in Aalen in Ostwürttemberg.

Gemeinsam mit der Klassenlehrerin Johanna Herkommer und der Leiterin des angeschlossenen Kindergartens, Verena Uhl, verantwortet Ehlen die Erarbeitung und Umsetzung des Konzepts. Dass der Bedarf für ein solches auch ohne Not immer da ist, darüber sind sich die drei Beauftragten der Delegation Schutzkonzept einig. «Wie mit dem Thema Gewalt umgegangen und ob überhaupt darüber gesprochen wird, ist in Schulen sehr vom jeweiligen Lehrpersonal abhängig», bekennt Johanna Herkommer. «Mit dem Schutzkonzept kann das jetzt einheitlicher gehandhabt werden.»

Bewusstsein schaffen

Im ersten Schritt ging es den Frauen vor allem darum, ein Bewusstsein in ihrer Einrichtung zu schaffen: Wie wollen wir miteinander umgehen? Welche Formen von Gewalt gibt es? Wo beginnen Grenzverletzungen? Dass das komplexe Fragen sind, wurde ihnen bald klar. «Als wir in die Erarbeitung des Schutzkonzepts gestartet sind, haben wir schnell gemerkt: Das ist ein riesengroßes Feld», erzählt Verena Uhl. «Wir haben ein Thema beleuchtet und daraufhin haben sich hundert weitere aufgetan.» Auch die Ausarbeitung der einzelnen Teile des Konzepts wie Verhaltenskodex, Potenzial- und Risikoanalyse und Interventionsplan stellten die Delegation vor Herausforderungen.

Unterstützung finden

Hilfe und Möglichkeiten zum Austausch mit anderen Waldorfschulen fanden sie dann beim Forum Gewaltprävention an Waldorfschulen des BdFWS in Oberursel. Die Diplom-Sozialpädagogin Kirsten Heberer beriet die Delegation aus Aalen auch über das Forum hinaus und unterstützte sie bei organisatorischen und inhaltlichen Fragen. Zudem brachte die Sozialpädagogin des BdFWS allen Mitarbeiter:innen aus Kindergarten, Verwaltung und dem Kollegium der FWS Aalen das Thema Gewalt und Gewaltprävention näher.

In den Konferenzen informierte Heberer über verschiedene Gewaltformen und vermittelte in praktischen Übungen ein Gefühl für übergriffige Situationen. Die gibt es immer mal wieder, etwa wenn der Sportlehrer in bester Absicht Hilfestellung leistet oder der Werklehrer den Schüler:innen beim Arbeiten körperlich nahe kommt. Wie können Mitarbeitende, Lehrer:innen und Schüler:innen gemeinsam und auf Augenhöhe Lösungen finden, damit bestimmte Situationen nicht als grenzüberschreitend wahrgenommen werden? Diese Frage wurde immer wieder thematisiert.

Alle mitnehmen

Nachdem die ersten Bausteine gelegt waren, trug die Delegation das Thema in die Gesamtkonferenz. Hier wurde das Schutzkonzept von den gewählten Eltern, Vertreter:innen aus Schüler:innen und Lehrer:innenschaft sowie dem Vorstand weiter besprochen und bearbeitet. Um herauszufinden, was die Schüler:innen im Einzelnen als grenzüberschreitend empfinden, wurden in den Klassen 6 bis 13 sogenannte Ampelbögen verteilt. Hier konnten die Kinder und Jugendlichen angeben, welches Verhalten an der Schule für sie okay, gerade noch im Rahmen oder absolut tabu ist. «Diese Punkte haben wir in den Verhaltenskodex aufgenommen und so wirklich versucht, alle miteinzubeziehen», erzählt Klassenlehrerin Johanna Herkommer.

Gemeinsam mit dem Kollegium machte die Delegation dann eine Risikoanalyse. «Hierfür sind wir durch die Räumlichkeiten und über das Gelände der Schule gelaufen und haben geschaut: Welche Orte sind nicht gut einsehbar? Wo müssen wir als Pausenaufsicht präsenter sein?», berichtet Herkommer weiter. «Einfach, um dunkle Flecken mehr ins Bewusstsein zu kriegen, damit Übergriffe jeglicher Art gar nicht erst stattfinden können.» Das fertige Konzept ging schließlich per E-Mail an sämtliche Mitarbeitende, Lehrer:innen und Eltern aus Kindergarten und Schule. Alle hatten die Möglichkeit, sich die Ausarbeitung noch einmal durchzulesen und Rückfragen zu stellen.

Vertrauen schaffen

Seit Anfang des Jahres wird das Schutzkonzept an der Freien Waldorfschule in Aalen und dem dazugehörigen Waldorfkindergarten am Hirschbach gelebt. Dazu gehören neben dem Papier vor allem engagierte Vertrauenspersonen, an die sich die Gemeinschaft des Waldorf-Campus bei Fragen und Anliegen rund um das Thema Gewalt wenden kann. Eine dieser Personen ist Johanna Herkommer. Aus dem Kollegium soll noch eine weitere Person hinzukommen, ebenso wie jemand aus dem Kindergarten und der Elternschaft mit entsprechender beruflicher Qualifikation. Auf diese Weise werde sichergestellt, dass vor allem den Schüler:innen bei Problemen unterschiedliche Ansprechpartner:innen zur Verfügung stünden, so die Delegation.

Die Vertrauenspersonen werden von den Kollegien aus Kindergarten und Schule auf zwei Jahre gewählt. Ob das System am Ende aufgehe, werde sich dann zeigen. «Wir starten einfach mal und sehen, wie es funktioniert», sagt Verena Uhl. In Anspruch genommen wird die Arbeit der Vertrauensstelle schon jetzt. Schüler:innen, Lehrer:innen, Mitarbeitende und auch Eltern können sich einmal die Woche zu einer festen Sprechzeit an die entsprechende Vertrauensperson wenden. Auch der Kontakt über E-Mail oder anonym per Zettel in einen extra zu diesem Zwecke angefertigten Briefkasten ist möglich.

Strukturen etablieren

Bewusstsein schaffen für einen gewaltfreien Umgang miteinander und eine Haltung entwickeln, die auf eigene Grenzen und die der anderen achtet – das ist den Schutzkonzept-Beauftragten der FWS Aalen gut gelungen. Auch wenn die Resonanz zunächst ernüchternd war, wie die drei Frauen berichten. «Brauchen wir hier nicht», «Es klappt doch alles wunderbar», waren Sätze, mit denen sie sich zu Beginn ihrer Arbeit konfrontiert sahen. «Es hat gedauert, bis der Funke im Kollegium übergesprungen ist», resümiert Herkommer. Inzwischen seien aber alle der Meinung, dass das Konzept wirklich notwendig und gut angelegt sei. Einige verpflichtende Elemente ließen auch keinen Raum mehr, sich «einfach rauszuhalten», so Verena Uhl. «Alle Mitarbeiter:innen müssen sich mit bestimmten Teilen des Konzepts befassen und diese auch unterschreiben.»

Die vielleicht größte Herausforderung steht aber noch bevor: das Konzept fest im Alltag von Schule und Kindergarten zu verankern und lebendig zu halten. Wie das gelingen kann, wissen die Schutzkonzept-Beauftragten schon: Unterschiedliche Schwerpunkte zu Gewalt und Gewaltprävention sollen immer wieder in pädagogischen Konferenzen behandelt und einmal im Jahr das Schutzkonzept auf Aktualität und Passung überprüft werden. Auch der Ampelbogen soll jährlich durch die Klassen gehen – als niedrigschwellige Möglichkeit für Schüler:innen, sich über Vorfälle wie Mobbing oder erfahrene Gewalt mitzuteilen. Die Vertrauensstelle will außerdem mit neu eingestellten Lehrer:innen und Mitarbeitenden ein umfassendes Gespräch über Gewalt, das Schutzkonzept und die dazugehörige Selbstverpflichtungserklärung führen. Auch neue Eltern sollen zum Thema informiert werden.

Vorurteile abbauen

Das Konzept zur Prävention und zum Umgang mit Gewalt soll dazu beitragen, Waldorfschulen und -kindergärten zu einem Schutzraum für Kinder und Jugendliche zu machen. Klare Strukturen befördern dabei nicht nur die Sicherheit im Inneren des Schulorganismus. Transparenz beim Thema Gewalt und Missbrauch ist auch für die Außenwahrnehmung wertvoll. Die eingangs erwähnte Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs stellte insbesondere für Schulen in freier Trägerschaft «eine gewisse Selbstgenügsamkeit und Abschottung nach außen» heraus. «Die enge Bindung von Lehrer:innen zu Schüler:innen, die starke Einbindung der Elternschaft in die Schulgemeinschaft sowie die Förderung charismatischer Lehrpersönlichkeiten» würden «Risikofaktoren für Übergriffe» bergen, befand die Kommission.

«Egal ob staatlich, kirchlich oder frei: Die Lehrkraft ist mit den Schüler:innen alleine im Klassenraum, die Sportlehrkraft ist mit ihnen in der Halle oder beim Schwimmunterricht; im Kindergarten wickeln die Erzieher:innen. Diese Situationen sind völlig unabhängig von jeglicher Trägerform», stellt Verena Uhl fest. Und Magdalena Ehlen ergänzt: «Solange Gewalt und Missbrauch Tabuthemen sind, kann das überall passieren.» Hier gelte es, Licht ins Dunkel zu bringen. So kann ein Schutzkonzept auch dazu beitragen, Vorurteile, etwa gegen männliche Erzieher, abzubauen.

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