Ausgabe 10/24

Langeweile ist lange Weile

Susanne Bregenzer

«Mama, ich habe Hunger, mir ist langweilig, kann ich ein Eis!»

Die Ferien haben begonnen, wir haben nichts vor und es regnet. «Nein, jetzt gibt es kein Eis, such dir eine Beschäftigung.» Die Platte hat einen Sprung, in den ersten Tagen von allen Ferien sage ich diesen Satz gefühlt tausend Mal.

«Aber es ist langweilig! Was soll ich tun?»

Drei Vorschläge mache ich, da sie aber alle abgelehnt werden, siegt doch die Langeweile. Die Kinder fangen an zu streiten. Und sich noch mehr zu langweilen. Die Langeweile scheint aber noch nicht schlimm genug, als dass sie mir im Haushalt helfen würden. Schade eigentlich!

Da ist ein bisschen schlechtes Gewissen in mir, dass sich über den Tag hin ausweitet. Die armen Kinder, wir fahren ja so selten in den Urlaub. Sie waren noch nie auf Bali, Quad-Fahren, nie auf den Schären in Schweden, nicht im Legoland und wir sind keine Dauerkundschaft beim Minigolf, in der Kletterhalle und im Freizeitpark. Sie dürfen nicht mal ständig fernsehen oder am Computer spielen! Letzteres bekomme ich dann auch im Minutentakt zu hören, weil es unfair ist. So unfair!

Irgendwann hat mein Mann Erbarmen und schnappt sich die Jungs fürs Schwimmbad. Begeisterung. Sie packen und fahren los. Die Langeweile hat eine Unterbrechung von knappen drei Stunden und wenn wir dachten, sie wäre damit für heute besiegt, haben wir uns geschnitten: Kaum kommen meine Kinder zur Tür herein, fragen sie, was wir jetzt machen. (Hunger, Langeweile, Eis!) Man könnte den Eindruck gewinnen, es ist sogar noch mehr Langeweile geworden. Langeweile im Quadrat, sozusagen.

Meine frühere Kollegin in meinem Berufsleben als Erzieherin sagte: «Wenn die Kinder anfangen, sich auf dem Boden im Kreis zu drehen, dann ist die Langeweile groß genug, danach kommen die guten Ideen!»

«Dreh dich doch ein bisschen im Kreis», schlage ich meinem Jüngsten spaßeshalber vor. Er kichert. Dann tut er es.

Funktioniert nicht, wenn es nicht von selbst kommt: «Kann ich ein Eis? Ich hab Hunger.»

Langeweile – was ist das eigentlich?


Hunger ist schon der richtige Ausdruck für dieses Gefühl. Es fühlt sich nämlich wirklich ein bisschen an wie Hunger. Und vermutlich steckt auch nichts anderes dahinter. Denn dort, wo sich die Langeweile ausbreitet, scheint nichts zu sein, ein Gefühl von Leere.

Ein gewisser Luxus ist dieses Gefühl übrigens schon. Noch vor hundert Jahren und in ärmeren Haushalten mussten Kinder so viel mithelfen, gab es so viel zu tun, dass für Langeweile überhaupt keine Zeit war. Wenn du von morgens bis abends arbeitest, fällst du anschließend einfach nur ins Bett und schläfst.

Freizeit und damit auch die Gelegenheit zur Langeweile ist ein modernes Phänomen. In der Antike herrschte noch die Überzeugung vor, dass Langeweile die Voraussetzung für kluge Gedanken und das Philosophieren war. Dies würden wir heute eher als Muße bezeichnen. Langeweile war früher eher der Oberschicht vorbehalten und hat sich schließlich, je mehr Freizeit durch die Entwicklung der Gesellschaft möglich war, auf die gesamte Bevölkerung ausgeweitet. Inzwischen ist es ein Gefühl, das immer mehr verschwindet, aufgefressen wird von ständiger Erreichbarkeit durch Internet und Smartphone.

Unser Alltag ist vollgestopft mit Terminen, Anforderungen, Aufgaben und nicht zuletzt mit Ablenkung und Zerstreuung. Wir sind erreichbar für den Chef und die beste Freundin. Aber auch für News aus aller Welt. Wir sind erreichbar für Katzenvideos und die idealen Familien auf Instagram, die gerade Quad fahren auf Bali. Lauter glückliche, nicht gelangweilte Kinder.

Ist es nicht gut, dass Langeweile verschwindet?


«Diese Stunden, in denen man nur so herumsitzt und wartet und wartet, die sind es, von denen man grauhaarig wird», meint Lasse aus Bullerbü, während er auf den Weihnachtsabend wartet und sich langweilt. Die Kinder in den Astrid-Lindgren-Büchern haben noch Langeweile. Weder fühlen sich dort die Erwachsenen für dieses Problem zuständig, noch wird es den Kindern abgenommen oder zugepflastert mit medialer Beschallung. Und wer liebt sie nicht die Geschichten aus Bullerbü und von Saltkrokan? Wer wünscht sich nicht, das eigene Kind könnte so etwas auch erleben?

Langeweile ist der Nährboden für die besten Ideen. Während man zeitgleich die Nachrichten auf dem Smartphone checkt und sich darüber informiert, wie es der Quad-auf-Bali-Familie jetzt gerade geht, hat man keine guten Ideen, die Seele ist voll. Über die Langeweile muss sie sich erst Platz verschaffen, sich gewissermaßen leeren, damit Raum entsteht für etwas Eigenes, etwas Neues, etwas Kreatives.

Der erste Ferientag, kein Eis und Regen: Das ist der perfekte Ort, um die Seele zu erholen, den Verstand baumeln zu lassen und einfach mal Löcher in die Luft zu gucken. «Ruhig mal die Seele baumeln lassen! Zuviel Gelehrsamkeit kann selbst den Gesündesten kaputtmachen», sagt Pippi Langstrumpf dazu.

Spiel aus der Tiefe


Die Pädagogin und Autorin Marie Luise Nüesch hat ein Buch über Das Spiel aus der Tiefe geschrieben, meine geliebte Hauptlektüre während meiner Erzieherinnentätigkeit. Darin beschreibt sie, wie das kindliche Spiel entsteht und was es bewirkt.

Im kreativen, kindlichen Spiel hat das Kind die Chance, seinen Alltag, alle Erlebnisse darin, die Gefühle und Eindrücke auf eine Weise zu verarbeiten, wie es praktisch nicht besser und gesundheitsfördernder geht. Das Kind kann ganz allein oder mit anderen spielen, es braucht keine erwachsene Anleitung dazu. Es taucht ein in seine eigene Welt, schafft sich einen Schutzraum aus der eigenen Fantasie und beginnt so, die Welt zu begreifen.

Sicherheit und Zeit


«Wir wären Katzenbabys, noch ganz winzig», ist zum Beispiel ein immer wiederkehrendes Spiel von Kindern, die sich in ihrem Alltag überfordert und unter Druck fühlen. Es wird ein Nest gebaut, eine umsorgende Mutter bestimmt und dann eingetaucht in das Gefühl, geborgen und behütet zu sein. Und daraus zieht das Kind anschließend die Kraft, sich den Anforderungen zu stellen. Auch das Spiel der Superhelden ist genial. Einmal groß und mächtig sein, einmal alles können! Einmal Beschützer:in sein – nicht hilflos.

Das Spiel aus der Tiefe ist aber nicht Kindergartenkindern vorbehalten. Auch ältere Kinder finden einen Zugang zu ihrer Kreativität, wenn sie die Chance dazu bekommen.

Zeit, Raum und Sicherheit. Zeit, in Langeweile zu geraten, aus dem Nichts zu schöpfen. Einen Raum, in dem es sich bewegen darf. Und Sicherheit. Oh, da kommen wir Eltern ins Spiel! Nein, keine Sorge, wir müssen nicht mitspielen.

Wenn wir Erwachsenen selbst in unseren Smartphones unterwegs sind, chatten, News checken oder einfach nur Katzenvideos anschauen, dann empfindet das Kind eine Art der Einsamkeit, die es unter Stress setzt. Wir Menschen sind Herdentiere und Kinder brauchen die Anwesenheit des Erwachsenen als sicheren Anker. Das heißt nicht, dass sie nicht auch lernen können, mal alleine zu sein, wenn das Alter dafür richtig ist. Aber um diesen fantastischen Innenraum der Kreativität zu bilden, ist es hilfreich, wenn der Erwachsene nicht nur körperlich, sondern auch geistig anwesend ist.

Marie Luise Nüesch empfiehlt dafür Tätigkeiten, die nachvollziehbar und sichtbar sind. Etwa die Wäsche aufhängen, Staub saugen, im Garten arbeiten. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es auch funktioniert, wenn ich einfach tue, was ich liebe. Etwas schreiben, Geige üben, stricken, kochen.

Experimente


«Mama, wie macht man eigentlich Marshmallows?» Wenn die Langeweile groß genug war, kommen die guten Ideen. Natürlich spielen meine Kinder nicht mehr so oft Katzenkinder, dafür sind sie inzwischen zu alt – sie experimentieren mit Lupen und Sonne, bauen echt rauchende Vulkane im Sandkasten, drehen einen Stop-Motion-Film mit Lego, üben ein Theaterstück ein und backen Zimtschnecken.

Manchmal brauchen sie ein wenig Hilfe oder ein Rezept – manchmal habe ich plötzlich einfach Zeit für mich. Zum Beispiel, um mich zu langweilen!

Kommentare

Es sind noch keine Kommentare vorhanden.

Kommentar hinzufügen

0 / 2000

Vielen Dank für Ihren Kommentar. Dieser wird nach Prüfung durch die Administrator:innen freigeschaltet.