Meine freundschaftliche Verbundenheit zu Aurelia Hölzer fußt auf der gemeinsamen Schulzeit. Aurelia war Schülerin in der Oberstufe, ich ein relativ junger Lehrer für Mathematik. Darüber hinaus war ihr Vater ein von mir geschätzter Kollege. Auch ihre drei Geschwister habe ich als Lehrer über viele Jahre begleitet. Der Kontakt zu Aurelias Familie ist nie abgerissen und so wusste ich von ihrer Überwinterung in der Antarktis und hatte auch in der Entstehungsphase des Buches lockeren Kontakt zu ihr.
Aurelia entfacht mit diesem Buch zunächst das Interesse für diesen oft vergessenen Kontinent und seine in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannte Bedeutung für die klimatischen Verhältnisse auf der ganzen Erde. Immer wieder leuchtet ihre Faszination für diese magische Welt aus Kälte, Sturm und Eis auf, die für Menschen als eine der sogenannten Todeszonen der Erde gilt. Dies bedeutet, dass dort kein natürliches Leben möglich ist und Menschen dort nicht ohne Hilfsmittel überleben können.
Daneben ist die Art, wie Hölzer für Wissenschaft und Technik begeistert, einfach herzerfrischend. Schier unbändige Kraft und Lebenslust strahlen von ihr und ihren Schilderungen aus. Es geht um die Überwinterung eines Teams aus neun Fachleuten, das unter den extremen Bedingungen des Kontinents acht Monate lang ohne eine Chance auf Evakuierung auf der Neumayer-Station meteorologische und geowissenschaftliche Untersuchungsreihen fortsetzt und dabei für die gesamte technische Funktionsfähigkeit der Station verantwortlich ist. In der Sommerzeit am Pol wächst das Team dann auf bis zu 50 Personen an, die dann auch koordiniert und verpflegt werden müssen. Damit das Team autonom überlebensfähig ist, hatte Aurelia Hölzer als erfahrene Chirurgin nicht nur die gesamte medizinische Verantwortung für die Crew, sondern auch die Verantwortung als Leitung der Neumayer-Station und der Überwinterung. Als Ärztin verfügte sie auf der Station über Geräte und Instrumente, mit denen sie für nahezu alle Fälle ausgerüstet war. Zusatzausbildungen in Unfallchirurgie und auch in der Zahnmedizinischen erwiesen sich als nützlich, denn auch letzteres Gebiet musste auf der Station im Notfall versorgt sein. Mit Hilfe von zahnärztlichen Kolleg:innen in Deutschland als Online-Back-up gelang es ihr tatsächlich, Behandlungen durchzuführen. Genau wie sie brachten auch alle anderen Teammitglieder besondere Fähigkeiten in das außergewöhnliche Zusammenleben ein. Ihnen zollt Aurelia Hölzer in ihrem Buch immer wieder eine große Wertschätzung. So geht sie zum Beispiel auf die schier unerschöpfliche Kreativität des Küchenmeisters ein, dem es gelungen ist, alle geschmacklichen Wünsche des Teams immer wieder zu erfüllen.
Weiterhin verfügt eine solche Station über ein eigenes Blockheizkraftwerk für die Strom- und Wärmeversorgung, über eine Windkraftanlage, einen umfangreichen Fahrzeugpark mit Pistenbullis und Skidoos, über eine eigene Abfallentsorgungsanlage und so weiter. Alles muss trotz und gerade wegen der extremen Verhältnisse hundertprozentig funktionieren, immer wieder geprüft und manchmal auch repariert werden. Auch die Kommunikation und die IT brauchen eine Fachperson vor Ort, denn von dem Datentransfer der Messergebnisse hängt nicht weniger als die Wettervorhersage für die ganze Welt ab. Auch die gesamte Logistik eines solchen Forschungsunternehmens wird eindrücklich geschildert.
Wir sind durch den Fortschritt der letzten hundert Jahre fast Lichtjahre entfernt von den wagemutigen ersten Forschungsexpeditionen von Amundsen, Scott und auch Hillary und trotz aller Sicherheitssysteme, die es heute gibt, wird deutlich, wieviel Mut noch immer dazugehört, solch eine Aufgabe für ein Jahr zu übernehmen.
Ein beeindruckender Aspekt aus dem Bereich des Sozialen sei auch noch erwähnt: Wenn man heute die vielen Schwierigkeiten wahrnimmt, die Menschen in der beruflichen und privaten Situation im Zusammenleben haben, und hier neun Menschen, die sich zunächst überhaupt nicht kannten, mit einem täglich hohen individuellen Arbeitspensum in einer unwirtlichen Umgebung, auf sehr begrenztem Raum, unter hohen Sicherheitsanforderungen zusammengewürfelt sind, ist die Teamarbeit ein zentrales Thema.
Wie schaffen es diese neun Menschen über 54 Wochen, sich so zu arrangieren, dass sie bestmöglich, wertschätzend und partnerschaftlich miteinander umgehen?
Aurelia Hölzer berichtet, wie kreativ, spielerisch und fantasievoll die Crew ihren Alltag, ihre Arbeit und Freizeit gestaltet. Die Wertschätzung untereinander und sicher auch viel Glück in der Zusammensetzung sowie die hochgelobte Begleitung durch das Team des Alfred-Wegener-Instituts, das die gesamte Arbeit auf der Station verantwortet, haben sicher dazu beigetragen, aber auch das hohe Bewusstsein für die Herausforderung an jede einzelne Person. Man darf aus Teambildungsgründen nur einmal an einer Überwinterung teilnehmen, damit wird das Erfahrungsgefälle in der Gruppe minimiert.
Die Begeisterung der Autorin und ihres Teams für die grandiose Eislandschaft, für die Kaiserpinguine, die Nordlichter und die über das Jahr hinweg unterschiedlichen Farbspiele des Sonnenlichts wecken bei Lesenden eine große Sehnsucht nach ähnlichen Erfahrungen. Das sei als augenzwinkernde Warnung vor der Lektüre ausgesprochen. Keiner der Menschen, die so eine Erfahrung gemacht haben, wird danach so weiterarbeiten und -leben wie vorher.
Wäre es nicht gut, unser Leben auf ähnliche Beine zu stellen wie die der Station Neumayer III, die durch die Eisbewegungen im Untergrund ständig in Bewegung ist?
Ausgabe 06/25
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