Mit einem Forstpraktikum begann alles. Mein heutiger Ehemann Rüdiger Wünsche holte im Jahre 2005 zum ersten Mal eine achte Klasse der Freien Waldorfschule Dresden nach Crostau. Rüdiger, gelernter Tischlermeister, war viele Jahre Werklehrer an der Freien Waldorfschule Dresden. Die große Liebe zu seiner Heimat Oberlausitz, und zu dem alten Bauernhof, auf welchem er aufgewachsen war, inspirierten ihn zu der Idee, das Forstpraktikum in Crostau zu etablieren. Seitdem kommen Jahr für Jahr die Achtklässler:innen hierher, um zwei Wochen lang im Wald zu arbeiten, und ein einfaches, naturnahes Leben kennenzulernen, das die Klassengemeinschaft auf eine einzigartige Art zusammenschweißt.
Dabei waren die äußeren Bedingungen anfangs alles andere als komfortabel. Ein Lager aus alten Zelten der Armee der DDR wurde auf einem idyllischen Plätzchen am Waldrand errichtet. Jeder Tropfen Wasser musste mit einem Wasserwagen aus dem Dorf heraufgebracht werden. Der Weg zu den Duschen in der Turnhalle war weit, es wurde also nicht täglich geduscht und so wusch man sich meistens mit kaltem Wasser im Zeltlager. Das soziale Leben spielte sich im großen Küchenzelt ab, mit einem kleinen Holzofen als einziger Wärmequelle. Um diesen versammelten sich alle am Abend, dicht gedrängt, einige werkelten und schnitzten, viele sangen Lieder zur Gitarre, die immer irgendjemand spielte.
Es ging früh raus in diesen kalten Tagen im Oktober, der sich in manchen Jahren von seiner goldenen, in anderen Jahren wieder von einer sehr rauen Seite zeigte und den Jugendlichen einiges abverlangte. In gewisser Weise waren sie auch eine «Leidensgemeinschaft», bei Wind und Wetter draußen in der Natur, manchmal von Kälte und Nässe geplagt, im Zeltlager auf engem Raum zusammenlebend.
Die Lehrer:innen berichteten uns, dass im Praktikum die Grenzen zwischen der Lehrer:innenautorität und den Jugendlichen mitunter verschwanden, dass es zu Begegnungen und Gesprächen von Mensch zu Mensch kam, ohne dass man Angst vor falschen Tönen der Lehrkraft gegenüber haben musste. Wenn die Menschen zusammenrücken, kommt es zu rührenden zwischenmenschlichen Szenen und natürlich auch zu Konflikten. Für uns als beteiligte Pädagog:innen ist es spürbar, dass diese Gemeinschaft eines besonderen Schutzes bedarf und ein lockeres und gut gemeintes Treffen mit Außenstehenden (ich denke da an den Besuch der Patenklasse) als Störung dieser Intimität empfunden wird.
Meine große Tochter, sie ist heute 18 Jahre alt, hatte das Glück, das Forstpraktikum im Jahre 2019 noch in seiner ursprünglichen Art zu erleben. Der Widerstand gegen das bevorstehende Zeltlager war enorm, umso größer war danach ihr Glück über diese einzigartige Zeit. Sie begrüßte mich mit den Worten: «Herr Wünsche ist mein Lieblingslehrer!» und ich ahnte damals noch nicht, dass er nach einer geraumen Weile auch meiner werden würde.
In dieser Atmosphäre einer tragenden Gemeinschaft ist es möglich, den Grundstein für etwas zu legen, was heutzutage unser allergrößtes Anliegen ist: die Natur zu schützen. Gemeinsam sind wir zu der Einsicht gelangt, dass theoretische Wissensvermittlung zum Thema Umweltschutz kaum Wirkung hat. Man muss die Natur erst einmal lieben, bevor daraus ganz natürlich der Wunsch erwächst, sie zu schützen. Diese Naturliebe wurde vielfach bei den Schüler:innen geweckt und im «Waldtagebuch» zum Ausdruck gebracht.
Das einmal jährlich stattfindende Forstpraktikum beflügelte Rüdiger enorm, da es ihn aus dem normalen Schulalltag heraushob und alle Beteiligten für eine gewisse Zeit zu einem «Organismus» formte. Löst sich dieser Organismus auf, wenn alle nach Hause fahren, bleibt, wie Rüdiger beschreibt, eine gewisse Wehmut nach dieser so besonderen Zeit. Diese Sehnsucht war vielleicht der ausschlaggebende Punkt, Dresden und die Waldorfschule ganz zu verlassen und mit mir und zwei von meinen Töchtern nach Crostau zu ziehen, um den Großteil unserer Energie dem Forstpraktikum für Waldorfschüler:innen zu widmen. Dazu gehörte auch, dass wir es für andere Waldorfschulen öffneten.
Heute findet das Forstpraktikum auf unserem Hof statt, der andere Eigenschaften bietet als das Zeltlager am Waldrand. Zum einen ist da natürlich mehr Komfort. Die Klassen sind heute in Tipis untergebracht, die Lehrer:innen im Wohnwagen oder in Zimmern. Es gibt einen gemütlichen Gewölberaum mit einem Kaminfeuer, Duschen und Toiletten und eine überdachte Außenküche und – wenn die Elektrik funktioniert – fließend heißes Wasser! Trotzdem bleibt das Ambiente rustikal. Unser großer Wunsch ist es, der alten Scheune als Herberge für die Schulklassen eine neue Bestimmung zu geben, denn so könnte man die Praktika auch in der kalten Jahreszeit durchführen, welche ja zum Pflanzen von Bäumen eher prädestiniert ist. Leider fehlen dafür noch die finanziellen Mittel, doch wir haben bisher nicht aufgehört, Wege zu suchen, damit dieser Traum vielleicht nicht nur ein Traum bleibt.
Wir leben auf dem Hof mit vielen Tieren, es gibt zwei Pferde, eine kleine Schafherde, Hühner, Kaninchen und Katzen. Wir freuen uns, den Schüler:innen auch hier Kontakt zu Tieren ermöglichen zu können. Wir haben Zehntklässler:innen im Kreis sitzen sehen, jede:r ein junges Häschen in den Händen haltend und sichtbar diese sinnliche Berührung mit dem kleinen warmen Tier genießend. Gern übertrage ich das Füttern mit der Milchflasche der Lämmer, welche anders nicht überlebt hätten, an die Praktikant:innen, die diese Aufgabe natürlich mit Hingabe erfüllen.
Viele Kinder sind es nicht mehr gewöhnt, körperlich etwas auszuhalten, sei es Kälte, körperliche Anstrengung, Hitze oder das Schlafen im Zelt. Bevor eine Klasse anreist, erreichen uns lange Fragenkataloge und man spürt die Angst und die Bedenken von Eltern und Schüler:innen vor dem «Abenteuer auf dem Wünschehof».
Zum Glück gibt es an Waldorfschulen immer wieder Lehrer:innen, die um die Bedeutung dieser elementaren Erfahrungen wissen. Inzwischen kommen Klassen zu uns auch zum Vermessungspraktikum, zu Klassenfahrten, um ein Klassenspiel einzustudieren oder sie schicken uns einzelne Landwirtschafts-praktikant:innen. Wir sind dankbar für die gute Resonanz.
In den letzten Jahren hat der Fichtenborkenkäfer den Wald bei uns sehr stark geschädigt, auf manchen Flächen steht kein einziger Baum mehr. Im Zuge dieser katastrophalen Veränderungen haben wir uns oft Gedanken über die Zukunft des Waldes gemacht. Wir stellen uns auch die Frage, ob der Wald den Menschen überhaupt braucht, oder ob man ihm nicht einfach Ruhe gönnen sollte, um sich zu regenerieren. Die Natur hat in Milliarden von Jahren die besten Programme hervorgebracht. Die Wissenschaft und Fachleute diskutieren das Thema kontrovers und wir werfen diese Frage gern in die Runde der Schüler:innen, um darüber zu sprechen.
Auch die Themen Gemeinwohl und Gemeinschaft beschäftigen uns intensiv, seit wir nach Crostau gezogen sind. Ist der Wald nicht etwas, das für ALLE da ist? Was uns mit Hoffnung erfüllt, ist die Tatsache, dass uns in all diesen Jahren immer auch Freiwillige aus dem Dorf unterstützten: sie halfen beim Aufbau des Lagers oder spendierten den Kindern Kuchen und Äpfel und brachten so ihre Anerkennung dafür zum Ausdruck, dass die Kinder sich um «ihren» Wald kümmerten.
Es ist aus unserer Sicht die wichtigste Aufgabe von uns Menschen, wieder zu lernen, sich gegenseitig zu helfen und füreinander da zu sein. Mit dieser achtsamen Haltung kann auch der Wald wieder gedeihen.
Ausgabe 07-08/24
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