Ausgabe 12/23

Lehrer:in wird man im Klassenzimmer

Bettina Huber

Bereits 1927 wurde in Österreich die erste Waldorfschule gegründet. Heute gibt es 20 Schulen dort, die ebenso Lehrer:innennachwuchs benötigen wie die Schulen in Deutschland. Unsere Mitarbeiterin Bettina Huber berichtet in dieser Reportage davon, wie in Wien am Zentrum für Kultur und Pädagogik Waldorfpädagogik vermittelt wird.

Fünf Personen sitzen erwartungsvoll in einem Raum, der mit einem antiken Parkettboden und ungewöhnlicher Raumhöhe für die in Wien so typische Altbauatmosphäre sorgt. Das Institut für Kultur und Pädagogik ist in einem ehemaligen Palais im vierten Wiener Gemeindebezirk eingemietet nahe einer U-Bahn-Station und für Gehwillige fußläufig vom Hauptbahnhof erreichbar. An diesem Abend sind hier zwei Männer und drei Frauen zusammengekommen, um sich über das Masterstudium Waldorfpädagogik zu informieren.

Wer nun einen Keynote Speaker samt PowerPoint-Präsentation erwartet, erlebt eine Überraschung. Denn die Lehrgangsleiter, Carlo Willmann und Leonhard Weiss, beginnen gleich bei den Fragen der Interessierten. Binnen Minuten entsteht eine intensive und konzentrierte Gesprächsatmosphäre, die schon viel über diese Ausbildungsstätte aussagt: Hier werden keine Lehrkräfte fabriziert, sondern Menschen, die sich für Kinder interessieren, auf ihrem Weg in den Lehrberuf begleitet.

Einer dieser Menschen ist Martina Lanen. Die Kärntnerin kam bereits als 17jährige mit der Waldorfpädagogik in Berührung, für eine entsprechende Ausbildung war sie damals aber noch zu jung. Mittlerweile hat sie zwei erwachsene Töchter, lebt in Wien und unterrichtet hier an einer reformpädagogischen Volksschule. Die Nähe zur Ausbildungsstätte ist für sie ein wichtiger Entscheidungsgrund für die Ausbildung, ebenso ihre private Unabhängigkeit. Sie hat zahlreiche Ausbildungen (Legasthenie, Montessori) absolviert und vielfältige Erfahrungen in den Tätigkeitsbereichen: Eltern-Kind-Gruppen, Schule, Hort, Integrationsklassen und beruflicher Reha gesammelt. Sie möchte Antworten auf gesellschaftliche Fragen finden, auf das, was Eltern und Schüler:innen heutzutage wirklich brauchen.

Auch Bernhard Mikuskovics hat bereits Erfahrung im Unterrichten. Er ist Obertonsänger und Multiinstrumentalist, seine musikalischen Projekte führten ihn nach Latein- und Nordamerika, wo er für sein Spiel auf indigenen Flöten den Native American Music Award verliehen bekam. Seit mehr als 20 Jahren gibt er Privatunterricht und unterstützt Kinder, Jugendliche und Erwachsene beim Erlernen eines Instrumentes oder beim (Wieder-)Entdecken ihrer Singstimme. Vorgegebene Wege waren ihm schon immer suspekt, in der Waldorfpädagogik findet er sich wieder.

Der perfekte Lehrer - heißt es in einem Schulwitz – raucht nicht, trinkt nicht, existiert nicht. Aber wie weiß man, ob man zum Lehrer oder zur Lehrerin taugt? Eine Eignungsprüfung für das Masterstudium gibt es nicht. Das Anmeldeprozedere sieht ein Motivationsschreiben und ein persönliches Bewerbungsgespräch vor, um Erwartungen abzuklären. Das kann eine Entscheidungshilfe sein. Doch ob man sich später im Unterricht bewährt, darüber sagt eine Universitätsqualifikation nicht viel aus. Eine Hilfestellung kann Willmann geben: «Lehrer wird man nicht im Studium», sagt er, «sondern im Klassenzimmer.» Übertragen auf das Masterstudium bedeutet das vorgeschriebene Praktika: im ersten Studienjahr sind 50, im zweiten Jahr 75 und im dritten Jahr 100 Hospitationsstunden zu absolvieren.

Idealerweise hat man zu Beginn des Studiums schon Unterrichtserfahrung an einer Waldorfschule. So wie Julia Kronister, die Biologie studierte mit der Absicht, in die Forschung zu gehen. Doch die prekären Arbeitsbedingungen an der Universität brachten ihren Entschluss ins Wanken. Deshalb arbeitete sie an ihrer ehemaligen Schule, der Freien Waldorfschule in Linz, als Assistenzlehrerin. Nach einigen Jahren übernahm sie eine erste Klasse und startete berufsbegleitend das Studium in Wien.

Berufsbegleitend bedeutet, dass Praktika von den Studierenden selbst eingeteilt werden können, der theoretische Unterricht erfolgt geblockt mit Anwesenheitspflicht in den Präsenzmodulen: je ein Wochenende im Monat sowie eine Intensivwoche in den Osterferien und zwei Intensivwochen am Beginn der Sommerferien. Über das Erlernte muss keine klassische Prüfung abgelegt werden. Allerdings müssen die Präsenzmodule jeweils schriftlich reflektiert werden.

Anders als im Regelschulwesen wird bei der Ausbildung von Waldorflehrkräften nicht nur an einer standardisierten Qualifikation (gemäß ECTS-Credits) für den Lehrer:innenberuf gearbeitet: Denn die Unterrichtszeit in den Präsenzmodulen widmet sich zu gleichen Teilen theoretischen Inhalten – wie dem Studium der anthroposophischen Menschenkunde – sowie der Selbsterfahrung der Studierenden in künstlerischen Übungsprozessen. Was soll das bringen?

«In der künstlerischen Auseinandersetzung lernt man, sich als Mensch in den eigenen Fähigkeiten und Schwächen zu reflektieren, und erlebt sich bewusst als Gestalter eines Prozesses», sagt Willmann zu dieser Hinführung an Rudolf Steiners Konzept, Erziehung oder Pädagogik als Kunst aufzufassen. Auch der Lehrplan an der Waldorfschule ist so strukturiert, dass Lehrende Freiräume finden, um Inhalte und Themen für Kinder situationsgerecht zu entwickeln und zu gestalten.

So kann, wie Kronister erklärt, die Klassenlehrerin entscheiden, wie sie zum Beispiel ein Epochenthema aufgreifen möchte. Soll es ein Bild, ein Experiment oder eine Geschichte sein? Im Mathematikunterricht kann sie sich Zeit für mehr Übungseinheiten nehmen, wenn der Stoff noch nicht sitzt. Freiraum bedeutet aber auch, spontan auf die Bedürfnisse der Kinder eingehen zu können: So bewährt sich nach einem anstrengenden Hauptunterricht das Vorlesen einer Geschichte. «Es geht ja nicht nur ums Stoff-Vermitteln, sondern auch um die Gefühle der Kinder beim Lernen».

Trotz der intensiven Persönlichkeitsentwicklung ist die Ausbildungsstätte kein Selbstfindungsinstitut oder Fluchtort vor den Anforderungen der Gegenwart. Dem Blick nach innen muss der nach außen folgen: Es gilt zu lernen, den eigenen Blick für die sensible Wahrnehmung von anderen Menschen zu schärfen, ein Gespür für Begegnungen zu entwickeln und die Einwirkungen von Ereignissen auf sich selbst zu reflektieren.

Der individuellen Wahrnehmung folgt eine Perspektive auf den gesamtgesellschaftlichen Kontext. Die Waldorfpädagogik existiert in keinem Vakuum. Ihr wahres Potenzial entfaltet sie in der Auseinandersetzung mit der nicht-anthroposophischen Welt, davon ist Willmann überzeugt. So ist die Ausbildung am Zentrum für Kultur und Pädagogik in Wien als Masterstudium an der Universität für Weiterbildung in Krems verortet, das Zentrum selbst ein An-Institut der Alanus Hochschule in Alfter bei Bonn.

Ein Ziel des Masterstudiums ist es daher, dass sich die Studierenden die Ansätze der Waldorfpädagogik in Zusammenhang mit anderen pädagogischen Konzepten und wissenschaftlichen Disziplinen erarbeiten. Es geht nicht einfach um Didaktik, sondern darum, Bildung in einem umfassenden Sinn zu begreifen: sowohl als Instrument der persönlichen Entwicklung, als auch als Säule lebenslangen Lernens, um individuelle Talente der Gemeinschaft zur Verfügung zu stellen.

Auch wenn es perfekte Lehrkräfte nicht gibt: Studien beweisen, dass die Qualität des Unterrichts entscheidend von der Kompetenz des Lehrers oder der Lehrerin abhängt. Die allgemeinen Erziehungswissenschaften verwenden viel Mühe auf die Definition von Lehrer:innenkompetenz.

Josef Kaltenberger erklärt es so: «Man muss etwas Freies in sich haben, und darf nicht angepasst sein.» Er ist pensionierter Oberstufenlehrer für Mathematik und Physik an der Freien Waldorfschule in Linz. Als Beispiel erzählt er, wie eine einmal lustlose Klasse anstelle des Unterrichts spazieren gehen wollte. «Gern», lautete seine Antwort, «aber nur, wenn ihr im Park barfuß über das Schneefeld lauft!» Die Klasse ließ sich auf ein Barfuß-Wettrennen mit dem Lehrer ein – und war in der nächsten Mathematikstunde wieder problemlos beim Stoff.

Auch wenn das dreijährige Masterstudium in Wien vergleichsweise kurz ist, darf es in seinem Aufwand nicht unterschätzt werden. Zum monatlichen Präsenzwochenende und den Intensivwochen kommen die Hospitationen und die Masterthesis. Auch Kronister warnt davor, den Zeitaufwand zu unterschätzen. «Neben Unterricht und Familie auch noch die Ausbildung zu machen, ist wirklich eine Herausforderung». Willmann empfiehlt, sich möglichst früh inhaltlich zu entscheiden und die Projektarbeit des zweiten Studienjahres als Vorstufe für die umfangreiche Masterthesis im dritten Jahr zu planen. «Ich erlebe immer wieder, dass die Masterthesis erst längere Zeit nach Ende der Lehrveranstaltungen abgegeben wird. Das ist grundsätzlich in Ordnung, aber es wird – neben der Berufstätigkeit – auch nicht leichter.»

Gerade das dritte Jahr mit seinem Schwerpunkt für die Klassenlehrer:innen ist für die spätere Berufstätigkeit essenziell. Andere Schwerpunkte sind Oberstufendidaktik und Heilpädagogik, für die es jedoch Mindestteilnehmerzahlen gibt. Interessierte müssen gegebenenfalls auf andere Studienorte, zum Beispiel in Deutschland, ausweichen.

Eine Besonderheit des österreichischen Ausbildungsweges ist das Modul Anthropologie der Religion. «Lebendig werdende Religion ist einer der Bildungsaufträge, die Rudolf Steiner an die Waldorfschule stellt. Allerdings ist das auch einer, der auf Skepsis trifft. Das Religionsmodul soll Waldorflehrkräfte vorbereiten, im gesellschaftlichen Spannungsfeld von Säkularisierung einerseits und pluralistischen, religiösen Angeboten andererseits Religiosität im Blick zu halten – als anthropologische Konstante, als Potenzial und Bedürfnis. Denn gerade bei Jugendlichen gehört sie zum Prozess der Selbstfindung.

Für seine Absolvent:innen wünscht sich Willmann das Gefühl, in den drei Studienjahren gewachsen und auf dem Weg in den Lehrer:innenberuf begleitet worden zu sein.  Kronister schätzt das Kontaktenetz. «Mit den Studienkolleg:innen kann man sich zwanglos beraten und austauschen», sagt sie, «und erfährt viel darüber, wie die Dinge an anderen Waldorfschulen gehandhabt werden.» Kaltenberger, der seine Ausbildung vor mehr als dreißig Jahren am Vorgängerinstitut, der Goetheanistischen Bildungsstätte in Wien absolvierte, erinnert sich heute noch gern an diese Zeit. «Für mich war das Malen und Plastizieren während der Ausbildung enorm wichtig», sagt er, «Als vormaliger technischer Angestellter musste ich ja ganz anders denken lernen!» In seiner Pension blieb er Lehrer und schrieb sogar ein Lehrbuch.

Auch wenn es den perfekten Lehrer nicht gibt – und auch nicht braucht – alle, die mit Herz in diesen Beruf wollen, werden an diesem Institut die Begleitung finden, die sie brauchen.

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