Ausgabe 10/23

Lernen in offener Landschaft

Marcus Erb-Szymanski

Halb Acht in Leipzigs Innenstadt: Ein marodierendes Häuflein Schulanfänger:innen versperrt den Zugang zur S-Bahnstation. Unweit davon plaudern die Eltern der Kinder mit denen, die die Kinder unterrichten werden. Dann entschwinden alle in die Unterwelt. 20 Minuten später: Ankunft mit der S-Bahn im Örtchen Rackwitz am Nordrand von Leipzig. Weitere 20 Minuten Fußweg später: Frühstück auf Gut Loberthal, der im September 2021 neu gegründeten, handlungspädagogischen Waldorfschule. Wie lange dieser Fußweg dauert, hängt allerdings von passierenden Hühnern, Ziegen oder etwa von Neuschnee ab.

Diffusion in den Sozialraum

Ein Herrenhaus, wie es der Name Gut Loberthal erwarten ließe, gibt es hier nicht, nur Container mit vier Klassenzimmern, einer Küche und sanitären Anlagen. Außerdem ein Gelände mit abenteuerlichen Spiel- und Versteckmöglichkeiten, eine Baracke mit zerschlagenen Fensterscheiben und eine ehemalige Berufsschule, die den Charme der 1970er verbreitet.
Gut Loberthal ist eben der Name für die Idee eines Lebensraums, in dem gearbeitet, gespielt und gelernt wird. Dieser diffundiert durch Kooperationen mit dem Demeter-Bauernhof HofGut Kreuma, einer Korbflechterin, dem Sportverein und einer Handweberin in die Umgebung. Werkstätten werden auf dem Schulgelände errichtet. Erstkontakte gibt es auch zur benachbarten Senioren-Residenz, einem Reiterhof und einem Zimmermannsbetrieb.
Die Angebote richten sich auch an schulexterne Interessierte, wie Nachbars- oder Geschwisterkinder, das Fachwort hierfür heißt Soziale Diffusion. Geplant sind zudem ein Gemeinschaftsgarten, eine Selbsthilfewerkstatt und eine Textilwerkstatt. Einmal im Monat gibt es Feste mit dem Hofgut, öffentliche Thementage zur Handlungspädagogik sowie Monatsfeiern.
Gefördert wird das Projekt vom Landkreis Nordsachsen, unterstützt von der Software- und Clara und Rudolph Kreutzer-Stiftung. Für das Pilotprojekt werden Stadtkinder jeden Tag mit öffentlichen Verkehrsmitteln abgeholt und zurückgebracht. Der Schulweg wird dabei in den Schulalltag integriert.

Die Geburt eines Sterns

Die Gründung einer Schule ist wie die Geburt eines Sterns. Aus einer Idee wird ein realer Himmelskörper, wenn immer mehr Menschen in den Wirkungskreis seiner Gravitation geraten. Eine ganze Gemeinschaft vollzieht diese Bewegung mit. Aus der Schwerelosigkeit des Träumens wird eine Auseinandersetzung mit irdischer Schwerkraft – wie etwa der Gang durch Ämter und Institutionen.
So ähnlich erging es wohl allen, die eine Schulgründung durchgemacht haben – auch Rudolf Steiner stand vor Herausforderungen, als er 1919 die erste Waldorfschule ins Leben rief. Dabei gestand er ein: «Aber wir haben es nötig, Kompromisse zu schließen. Kompromisse sind notwendig, denn wir sind noch nicht so weit, um eine wirklich freie Tat zu vollbringen. Schlechte Lehrziele, schlechte Abschlussziele werden uns vom Staat vorgeschrieben. Diese Ziele sind die denkbar schlechtesten, und man wird sich das denkbar Höchste auf sie einbilden.»

Tatsachenlogik statt Gedankenlogik

Über den Unterricht sagte Steiner: «Dasjenige, worauf es ankommt, das ist, dass wir eine Pädagogik finden, wo gelernt wird, zu lernen, zu lernen sein ganzes Leben hindurch vom Leben. Es gibt nichts im Leben, wovon man nicht lernen kann.»
Steiner entwickelt eine Pädagogik für Arbeiterkinder, die sie mit praktischen Aufgaben konfrontiert, anstatt sie mit Fach- und Faktenwissen anzufüllen. An die Stelle einer fachspezifischen Gedankenlogik tritt in der Begrifflichkeit Steiners eine durch Selbstwirksamkeit erfahrene Tatsachenlogik.
Folgerichtig braucht eine solche Unterrichtsform keine Menschen mit Fachwissen, sondern Persönlichkeiten, die fest im Leben stehen und eine Beziehung zu den ihnen anvertrauten Kindern aufbauen. Lebendige Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern entstehen dann, wenn gemeinsam Aufgaben gelöst werden. Die Lehrenden sind in dem Fall Vorbilder, die Kinder an ihren Bemühungen teilhaben lassen, reale Probleme im Leben zu lösen. Deshalb ist das Ende der Fachlehrkraft der Anfang einer sozialen Bildung, die Kinder befähigt, sich den Herausforderungen des gesellschaftlichen Lebens zu stellen.
Neben dem Bruch mit dem Lehrplan und dem Bruch mit dem Fachunterricht gehörte für Steiner in logischer Konsequenz schließlich als Drittes der Bruch mit dem Stundenplan dazu. Für ihn ist der fixe Stundenplan eine «Mördergrube für alles dasjenige, was wahrhafte Pädagogik ist.»
Eine zukunftsfähige Pädagogik hat demnach die Aufgabe, Menschen zu bilden, die eine Gesellschaft aktiv und kreativ gestalten. Dazu bedarf es Neuerungen des anachronistischen Schulwesens: keine Prüfungen, sondern problemlösungsorientiertes Lernen an realen Lebensaufgaben, keine Fachlehrkräfte und -unterrichte, sondern ressourcenorientiertes Lernen auf Basis der wertschätzenden Beziehung von Persönlichkeiten, kein Stundenplan, sondern handlungs- und prozessorientiertes Lernen in fachübergreifenden Sachepochen

Lernen vom Leben

Für Kinder auf Gut Loberthal beginnt der Tag mit dem gemeinsamen Schulweg und Frühstück. Danach beginnt die Epochenzeit. Während der Bauernhof-Epoche helfen die Kinder zum Beispiel bei der Ernte auf dem Feld. In der Fahrradepoche üben die Kinder Verkehrsregeln und lernen erste Laute: S beim Sattel, L beim Lenker, R beim Rad und so weiter. Nebenher entsteht ein Epochenheft.
Diese Ausrichtung ermöglicht Inklusion, weil sich jedes Kind im Rahmen seiner Möglichkeiten einbringen und individuelle Erfahrungen sammeln kann. Jede Epoche wird von einem Team aus Klassenlehrer:in und einer Fachfrau oder einem Fachmann betreut. Fachunterrichte werden in die Sachepoche integriert. Nachmittags wählen die Kinder zwischen freiem Spiel und Kursangeboten wie Korbflechten, Handarbeit, Tanzen, Fahrradwerkstatt und Schnitzen. In der Mittelstufe kommen Übstunden dazu.

Qualifikationen und Selbstverwaltung

Bei den Prüfungen wird es nicht ohne Kompromisse gehen. Ziel ist es jedoch, in den hauseigenen Werkstätten oder bei Kooperationspartner:innen einen Berufsabschluss zu erlangen.
Eine weitere Besonderheit auf Gut Loberthal ist die handlungspädagogische Ausrichtung eines dualen Studiengangs. Dazu wurde in Zusammenarbeit mit dem Campus Mitte-Ost e.V. ein Pilotprojekt gestartet.
Für die Selbstverwaltung werden in einer dezentralen Organisationsstruktur Aufgaben in Kreise delegiert, die mit Entscheidungskompetenzen ausgestattet sind. Entwicklungen sollen nicht durch Mehrheitsentscheidungen verhindert werden können. Gute Erfahrungen hat das ganze Team damit gemacht, Ziele und Konzepte an realen Gegebenheiten immer wieder neu auszurichten. In der Wirtschaft nennt man diese ressourcenorientierte Strategie Effectuation. Der deutsche Begriff lautet Unternehmenskunst. Das ist auf der Ebene der Organisationsentwicklung ein Pendant zu dem, was Steiner Erziehungskunst genannt hat. Es ist eben eine Kunst, Konzepte aus dem erwachsen zu lassen, was vorhanden ist – eine schöne und schwere Kunst.

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