Erziehungskunst | Euer Projekt trägt den Namen Aufbau eines rassismuskritischen und diversitätssensiblen Lektüreangebots im Fachbereich Englisch. Wie kam es dazu?
Neele Hüneberg | Als ich vor sechs Jahren als Lehrerin an die Waldorfschule in Bremen gekommen bin, habe ich in der Vorbereitung für meinen Englischunterricht schnell gemerkt, dass die Lektüren, die über die Pädagogische Forschungsstelle vertrieben werden, kaum Diversität widerspiegeln – sowohl mit Blick auf die Narrative und die Figuren, aber auch in Bezug auf die Autor:innen. Ich habe im Rahmen meiner Abschlussarbeit dann einen Brief an die Forschungsstelle geschrieben und exemplarisch an einer Lektüre aufgezeigt, wo zudem Rassismen in einzelnen Geschichten stecken und wo eurozentrische Sichtweisen im Narrativ dieser Lektüren verhaftet sind. Darüber bin ich mit dem Geschäftsführer der Forschungsstelle, Christian Boettger, in Kontakt gekommen. Offenbar bestand in der Pädagogischen Forschungsstelle für diese Zusammenhänge durchaus schon ein Bewusstsein, es wurde aber dann erst mit meiner Initiative zu einem Projekt.
EK | Und wie ging es dann weiter?
NH | Zunächst wurde besprochen, dass innerhalb einer Forschungsgruppe, zu der Mirjam Nuenning ab Januar 2024 beigetreten ist, alle Englischlektüren vor dem Hintergrund diversitätssensibler und rassismuskritischer Kriterien zu überprüfen sind. Es galt zu entscheiden, welche Geschichten weiterhin durch die Pädagogische Forschungsstelle vertrieben werden sollten. Außerdem stellten wir uns die Frage, mit welchen Perspektiven wir es in den bisherigen Lektüren zu tun hatten und welche Stimmen wir später in unseren Büchern hören wollten. Wir haben viel diskutiert und überlegt, bei welchen Lektüren müssen wir klar sagen, das ist heute so nicht mehr vertretbar, die mit Schüler:innen zu lesen, bei welchen Lektüren sind lediglich didaktische Hinweise oder ein erweiterndes Umschreiben nötig und welche Lektüren können auch heute noch genutzt werden. Das war der erste Teil des Projekts.
Mirjam Nuenning | Wir haben einen Aufruf gestartet und suchen nach Autor:innen, die neue Lektüren oder Workbooks schreiben. Diese neuen Geschichten sollen neben den waldorfspezifischen Kriterien für Fremdsprachenlektüren den Ansprüchen diversitätsbewusster, diskriminierungs- und rassismuskritischer Bildungsmaterialien entsprechen. Wir planen auch eine Lyrik-Sammlung und eine Homepage mit Literaturempfehlungen für die Oberstufe, die wir Lehrkräften zur Verfügung stellen.
MN | Die englischsprachige Welt ist, auch aufgrund des Kolonialismus, sehr groß. Es gibt viele Länder in der Karibik, in Afrika oder in Asien, wo Englisch entweder eine gelebte Sprache oder eine der Amtssprachen ist. Uns geht es auch darum, Menschen der gesamten englischsprachigen Welt in den Lektüren eine Stimme zu geben. Interessant für den Englischunterricht sind zum Beispiel auch Bücher, die auf Pidgin English geschrieben sind, wie Sozaboy von Ken Saro-Wiwa.
NH | Wir starten das Projekt mit einem Antirassismus-Training für alle Projektbeteiligten, die weiß positioniert sind. Durchgeführt wird das Training von Phoenix e.V. Eingeladen sind unter anderem Menschen von dem Projekt Zukunft. Machen, die uns beraten und mitfinanzieren, und Mitarbeitende von der Pädagogischen Forschungsstelle sowie der Erziehungskunst. Uns war von Anfang an klar, dass dieses Projekt auch die Sensibilisierung und Schulung aller am Projekt Mitwirkenden inkludiert. Außerdem wird es drei- bis viermal in dieser Projektlaufzeit Expert:innenrunden zu bestimmten Themen geben. Zuletzt haben wir eine solche Runde zum Thema Workbooks und Wortschatzarbeit gemacht, weil wir uns auch didaktisch fortbilden wollen.
NH | Die Illustrationen sind übrigens genauso wichtig. Was und wer ist da eigentlich abgebildet und wer nicht? Von dem Antirassismus-Workshop erhoffen wir uns auch, dass es einen Streueffekt gibt, weil verschiedene Beteiligte aus unterschiedlichen Institutionen zusammenkommen. Im Moment versuchen wir in einem kleinen Kosmos, Veränderungsprozesse anzustoßen. Aber das ist nur ein kleines Rädchen in diesem großen Ganzen. Die Anschlussfragen werden aber spannend: Wo hat unser Projekt Anbindung an die Lehrer:innen und an die Kolleg:innen? Es gibt ganz viele Vernetzungsschritte, die nach und nach gegangen werden, aber noch stehen wir ziemlich am Anfang.
EK | Warum konnte denn ein Englischunterricht so lange so sein, wie er bisher war?
MN | Ein Phänomen ist, dass die meisten Waldorfschulen sehr homogene weiße Räume sind und ich vermute, dass an vielen Waldorfschulen gedacht wurde, sie müssten sich mit diesen Themen nicht beschäftigen, weil es sie nicht betrifft. Ich denke, es kommen Leute auch aus einem sehr hohen Idealismus heraus an diese Schulen und beschäftigen sich viel mit dem Menschsein und mit dem Kindsein, und sehen aber vielleicht nicht, dass es diesen riesigen Bereich gibt, der uns und unsere Gesellschaft seit Jahrhunderten prägt. Und wenn dann die Schulen sehr weiß sind, dann fällt es den Leuten womöglich gar nicht auf, wenn in den Lektüren Rassismen reproduziert werden. Inhaltlich-pädagogisch verbinden sicherlich auch viele Familien of Color etwas mit Waldorf, aber sie sehen auch, wie weiß diese Räume sind und hören dann womöglich auch noch von rassistischen Äußerungen von Steiner und bleiben dann weg.
NH | Ich glaube, es ist für viele Menschen eine ganz unangenehme Auseinandersetzung. Rassismus zu verlernen, ist ein aktiver und für viele Menschen auch ein emotionaler Prozess. Da reicht es nicht aus, auf der Homepage einer Schule die Stuttgarter Erklärung, in der sich Waldorfschulen gegen Rassismus und Diskriminierung aussprechen, zu veröffentlichen.
EK | Gibt es Kritik an Ihrem Projekt? Gibt es Menschen, die verunsichert sind von Ihrer Arbeit?
MN | Es gibt die große Sorge, etwas zu verlieren und die Angst vor der Auseinandersetzung mit den eigenen Themen oder Schatten.
EK | Wie steht es um angehende Waldorfpädagog:innen, wo stehen die Ihrer Meinung nach?
MN | Es gibt immer wieder Workshop-Anfragen aus Kollegien. Diese Anfragen nehmen zu. Oft sind es jüngere Kolleg:innen, die das anstoßen, aber teilweise kommt es auch von den Schüler:innen. Eine Person in meiner Weiterbildung zur Waldorferzieherin hat diese abgebrochen, weil ihr eine rassismuskritische Auseinandersetzung mit unserer Pädagogik gefehlt hat. Sie konnte es für sich überhaupt nicht vertreten, weiterzumachen. Eine weitere Kollegin hat genau das gleiche erlebt und hat mit anderen Mitstudierenden damals den Arbeitskreis Rassismuskritische Waldorfpädagogik aus dem Seminar heraus geformt.
NH | Ich merke bei Schüler:innen, dass sie teilweise viel weiter sind als wir und auch ein großes Interesse daran haben, sich mit dieser Ungerechtigkeit, die sie empfinden, auseinanderzusetzen. Bei etlichen Lehrkräften hingegen gibt es eine große Not, überhaupt Worte zu finden: Wie spreche ich eigentlich richtig über Rassismus und Diskriminierung? Das ist ein sehr sensibles Thema. Und dafür braucht man das richtige Handwerkszeug. Man muss sich als weiße Lehrkraft erstmal selbst reflektieren und verorten. Darüber hinaus braucht man auch Vokabular und Anregungen, wie man mit Schüler:innen über das Thema spricht. Das ist bislang weder in der Lehrer:innenausbildung bei Waldorf noch in der staatlichen Lehrer:innenbildung verankert.
EK | Wie ist Ihre Vision von dekolonialer Lektüre im Unterricht?
NH | Bei unseren Lektüreideen geht es nicht um ein Wegnehmen oder Streichen, sondern ums Erweitern, Neudenken, Überdenken und Pluralistischer-Machen. Es geht letztendlich darum, dass alle Kinder Identifikationsmöglichkeiten haben. Und wir gehen nicht davon aus, dass das reibungslos läuft. Aber auch wenn es Diskussionen und Reibereien gibt, ist es für mich trotzdem sehr lohnenswert und unverzichtbar, diese Arbeit zu machen.
EK | Sogenannte Kritisches-Weißsein – oder Critical Whiteness Workshops setzen sich mit dem sozialen Konstrukt Weißsein und den damit einhergehenden Fragen von Macht, Privilegien und internalisierten Rassismen auseinander. Was haltet ihr von einem obligatorischen Critical-Whiteness-Seminar für jede angehende Lehrkraft beziehungsweise für die, die es schon sind?
NH | Absolut wichtig und richtig. Das würden wir beide definitiv befürworten. So ein Workshop fällt unter das Thema Gewaltprävention und Schutzkonzept, das jetzt alle Waldorfschulen entwickelt haben. Schutz vor Diskriminierung muss fest in diesen Konzepten verankert sein und dazu gehört einfach, dass die Menschen, die dort arbeiten, sich auch sensibilisieren für verschiedene Diskriminierungsformen, vor denen wir die Kinder und ihre Familien schützen müssen. Das können wir nur, wenn wir unsere Hausaufgaben machen und sehen, an welchen Stellen wir vielleicht auch solche Stereotypen oder Bilder verinnerlichen, weitergeben und leben.
MN | Übrigens haben viele amerikanische Waldorfschulen im Zuge der Black-Lives-Matter-Bewegung angefangen, sich kritisch mit Rassismus auseinanderzusetzen. Sie haben zum Beispiel «Diversity Statements» erarbeitet und auf ihre Website gestellt und verpflichtende Anti-Rassismus-Trainings für Kollegien eingeführt. Auch da können wir hier in Deutschland nachziehen.
NH | Ich habe das Gefühl, mit dem Projekt ist etwas initiiert worden, bei dem wir die Chance haben, positive Veränderungen für eine diversere Waldorfwelt zu bewirken.
Das Gespräch führte Heidi Käfer.
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