»Licht und Schatten« im Corona-Halbjahr

Petra Mühlenbrock

Unbekanntes Terrain erobern 

Im Sommer, als wir noch auf ein schnelles Ende der Pandemie hofften, startete meine sechste Klasse – froh vereint nach dem ersten Lockdown – in vergangene Zeiten.
Alexander der Große hatte in der 5. Klasse nicht als Inhalt dem Virus zum Opfer fallen sollen, deshalb stand er janusköpfig am Anfang der 6. Klasse und führte uns mit seinen Eroberungen durch die antike Welt. Sein jugendlicher Tatendrang und seine Unverwüstbarkeit erschienen mir ein guter Start in das neue Schuljahr, das uns viel unbekanntes Terrain in jedweder Hinsicht versprach.

Die Römer, die ihm im Unterricht folgten, taten Ähnliches wie er: Sie eroberten die damals bekannte Welt – bis hin zu einem kleinen Örtchen in der Nähe von Münster, wo man zwar nicht gallisch, aber germanisch sprach und die Römer bei Kalkriese zurückschlug. Auch jetzt führte der Blick weit hinaus in die europäische und kleinasiatische Welt. Ein Besuch des nach dem ersten Lockdown endlich wieder geöffneten Römerlagers bei Haltern rundete die Epoche ab. »Endlich wieder Besucher!«, hieß es vom Museumspersonal. Wir wurden mit großem Enthusiasmus durch die Ausstellung geführt (natürlich maskiert) und hatten (trotzdem) viel Freude an dem nachgebauten Kastell und den vielen Exponaten. Besonders viel Spaß machte den Sechstklässlern die Unmenge kleiner Playmobil-Männchen, die in exakter Aufstellung den langen Zug der Legionen des Quintilius Varus mit allen Feinheiten illustrierte. »Die Sendung mit der Maus« hat dieses »Kunstwerk« als Dauerleihgabe dem Museum überlassen (es gibt sogar einen Film dazu).

Gebrochene Zahlen, Licht und Schatten

Die Römer-Epoche ist ein Genuss in dieser Klassenstufe, man möchte gar nicht aufhören …, aber das geht ja nicht: Also wieder ran an die Corona-Reste des 5. Schuljahres. Zahlenreihen mit und ohne Komma brüchelten vor sich hin, das große Einmaleins multiplizierte sich seiner Vollendung entgegen – da winkte er schon wieder von ferne: ein zweiter Lockdown. Was tun? Ich wurde fündig beim Waldorf-Ideenpool: Während die Physik-Epoche mit »Klängen und Geräuschen« sowie »Licht und Schatten« das Klassenzimmer durchzog, bereitete ich mich auf eine fiktive Europareise vor. Mir erschien das zeitlich recht passend, konnten die Schüler in den Weihnachtsferien doch schon mal Bücher wälzen, Bilder suchen, die weit gereiste Verwandtschaft interviewen und nach Urlaubsfotos fragen.

Wohin verreisen im Lockdown?

Es wurde ein goldener Griff. Als die Sechstklässler nach den Weihnachtsferien tatsächlich zu Hause bleiben mussten, habe ich sie mit konkreten Aufgaben in die Länder Europas geschickt. 34 Schüler verteilt auf 34 Länder, und ab ging die Post!

Verabredet wurde, dass jeder zunächst von zu Hause aus in die Hauptstadt des ihm zugewiesenen Landes aufbricht. Die Schüler hatten sich entschieden, mit den Eltern zu verreisen und nicht solo eine Freundin oder einen Freund zu besuchen. Die Gastfamilie sollte in dieser Hauptstadt leben und war, so eine andere Verabredung, mit der eigenen Familie befreundet. Zumindest ein Familienmitglied sollte Deutsch sprechen können (zu Übersetzungszwecken); außerdem gab es ein Kind im gleichen Alter, dessen Geschlecht man wählen durfte. Ich habe mich letztlich gegen das ausgeprägte Klimagewissen der Klasse entschieden und als Reisemobil das Auto gewählt: Es gibt einfach am meisten her, wenn man eine genaue Route auch im übertragenen Sinne »erfahren« will. Und der CO2-Ausstoß hielt sich in diesem Fall in Grenzen.

In den Lockdown-Wochen des Januar erhielten die Kinder konkrete Aufgaben und Fragestellungen, für die sie jeweils zwei Tage Zeit hatten: An einem Tag wurde recherchiert und Notizen in ein extra Heft gemacht, am Folgetag sollten die Aufsätze ordentlich und mit korrekter Rechtschreibung in ein Reisetagebuch übertragen werden. Diese Seiten wurden über den Schulserver zur Korrektur hochgeladen.

Es geht los!

Die Reise begann »… nach Corona. Das Reisen ist endlich wieder erlaubt. Es ist der Abend des 30. Juli 2021, ein Freitag«: Der Vorabend der großen Reise, an dem jeder sich in Gedanken noch einmal mit der Reiseroute des folgenden Tages beschäftigen sollte. Diese Reiseroute wurde ins Heft gezeichnet mit allen Grenzen, Flüssen, Bergen usw., die auf dem Weg liegen.

Und so brachen denn alle auf und begaben sich auf eine Abenteuerfahrt, die ich mir in dieser Ausgestaltung in meinen kühnsten Träumen nicht erhofft hätte. In der Hauptstadt angekommen, wurden die Schüler von der Gastfamilie begrüßt, erforschten am nächsten Tag die Sehenswürdigkeiten der Stadt, lernten die dortigen öffentlichen Verkehrsmittel kennen, besprachen beim Abendbrot lebhaft den vergangenen Tag … Die Regierungsform des Landes, eine zweitägige Flussfahrt mit Übernachtung an Bord (wahlweise auch eine Fahrt an der Küste entlang), der Besuch eines Museums, interessante Unterhaltungen mit dort lebenden Menschen – es ist unglaublich, wie lebendig all diese Inhalte erzählt wurden ... als seien die Schüler wirklich dort gewesen. Einen besonderen Höhepunkt bildete die Gestaltung eines selbst gewählten Ausflugs: Klettern, Ponyreiten, Wildwasserfahren, Tauchen, ein Konzertbesuch – die Auswahl war reichhaltig. Wichtig bei all dem war mir stets, dass die Geschichten zwar phantasievoll, aber realistisch blieben. Das eine oder andere geriet zumindest am Anfang ein wenig aus dem Ruder und wurde illusionär. Diese Schüler habe ich freundlich, aber konsequent auf den Boden des Machbaren zurückgeholt: Phantasie zu entwickeln in einem vorgegebenen Rahmen ist für die Heranwachsenden nahezu therapeutisch. Und die Kinder begriffen schnell, worum es ging, und nahmen die Korrekturen an.

Gekocht wurde auch

Über die drei Wochen, die unsere »Reise« in Anspruch nahm, hatten alle genügend Zeit, sich ein landestypisches Rezept zu besorgen und es irgendwann einmal mit der eigenen Familie zu Hause zu kochen. Diese realen Erfahrungen wurden für den letzten Abend mit der Gastfamilie eingebunden in eine »gemeinsame« Kochaktion mit anschließendem Festessen. Alle hielten hier noch einmal einen Gesprächsrückblick auf den vergangenen »Aufenthalt«. Einige hatten sich beim Kochen sogar fotografieren lassen, so dass es wirkte, als stünden sie tatsächlich in einer Küche in Slowenien, Weißrussland oder Griechenland! Und dann waren alle wieder zu Hause, lagen in ihren Betten und erfreuten sich an dem, was sie erlebt und kennengelernt hatten. Ein kleiner (angeleiteter) Rückblick auf die letzten Wochen rundete das Reisetagebuch ab.

Und mein Rückblick auf das Corona-Halbjahr?

Es war trotz Maskenpflicht und Distanzunterricht ein spannendes Halbjahr. Mein persönliches Lebensmotto lautet »Carpe diem«, und ich habe den Tag nach meinen Möglichkeiten so gut es ging genutzt: Geschichte und Physik fanden in der Schule, mit persönlichen Erlebnissen und Schilderungen statt, was ein Glück war. Rechnen und Schreiben durchzogen das ganze Halbjahr, das Üben funktionierte sowohl in Präsenz als auch in Distanz.

Und die Geographie? Bei Christof Wiechert finde ich Folgendes dazu ausgeführt: »Wir erfahren aus den Forschungen Rudolf Steiners, wie dieser Unterricht, wenn er ›vernünftig‹ betrieben wird, eine Wirkung auf das Befestigen des Geistig-Seelischen nach ›unten‹ hin hat. So mag der Hinweis, dass Geographieunterricht eine Auswirkung auf das Moralische des Menschen habe, in seiner grundlegenden Bedeutung nachvollziehbar sein. Das große Gewicht eines solchen Faches charakterisiert Steiner ganz unmissverständlich, indem er sagt: »... und das Zurückdrängen der Geographie bedeutet nichts Anderes als eine Aversion gegen die Nächstenliebe, die sich in unserem Zeitalter immer mehr und mehr zurückdrängen lassen musste.« – Wie prophetisch!

Die Sechstklässler waren auf großer Fahrt, als das Reisen untersagt war. Sie haben sich mit anderen Ländern, Kulturen und Landschaften vertraut gemacht. Auf ihrer Fahrt lernten sie wie nebenbei, in Büchern nachzuschlagen, mit einer Kindersuchmaschine umzugehen, auf den Seiten der Geobine (ebenfalls eine kindgerechte Netzseite) zu recherchieren und im Atlas ihre Routen zu suchen und zu zeichnen. Auch in der Rechtschreibung wurden riesige Fortschritte gemacht: Alle (!) Hefte enthielten kaum Rechtschreibfehler. Und unglaublich: Umgehen mit dem Aufgabentool der Schulplattform, das kann ich jetzt – die Eltern und sicher z.T. auch die Schüler ebenfalls. Also war auch ein Schritt getan in Richtung »Zeitgenossenschaft«, über die ich dieser Tage viel nachdenke ...

Die Reisetagebücher wurden richtige kleine Kunstwerke. Wenn die Umstände es wieder ermöglichen, werden wir sie allen präsentieren; dann soll es Reiseberichte geben bei verschiedenen Kuchen, Süßigkeiten und Getränken aus ganz Europa – das wird bestimmt großartig!

Sollte (was der Himmel verhindern möge!) ein neuer Lockdown kommen, kann ich nur eines empfehlen: Begeben Sie sich mit Ihren Klassen ebenfalls auf eine Reise in der (und in die) Phantasie der Kinder!

Übrigens: Das Ganze funktioniert natürlich auch ohne Lockdown ...

Zur Autorin: Petra Mühlenbrock ist Klassenlehrerin an der Freien Waldorfschule Münster und in der Postgraduierten- Ausbildung am Waldorf Institut Witten-Annen tätig.

Link: Meine Arbeitsanweisungen finden Sie auch auf der Seite des Waldorf-Ideenpools unter: Reisetagebuch – Planung und Umsetzung. 6. Klasse. Geographie. Projekte. www.waldorf-ideen-pool.de 

Literatur: Chr. Wiechert: Du sollst sein Rätsel lösen, Dornach 2017