Ich wurde in Syrien geboren und dazu erzogen, Juden als Feinde zu betrachten. Meine Mutter ist Syrerin und mein Vater war Palästinenser. Seine Familie musste 1948 ihr Zuhause in Jerusalem verlassen. Sie zogen mit ihren acht Kindern nach Ägypten und dann nach Syrien. Ich erinnere mich, dass ich den Schlüssel ihres Hauses in Jerusalem in der Hand hielt, er lag traurig und doch geduldig hoffnungsvoll in der Schublade des Schreibtischs meines Großvaters in seinem neuen Haus in Damaskus. Ich erinnere mich auch, dass ich sehr wütend war, als meine Großmutter mir immer von ihrem Zuhause in Jerusalem erzählte, einem himmlischen Ort, umgeben von verspielten Kindern rund um das Haus, umgeben von leuchtenden Orangenbäumen, handbestickten Kleidern und einem Duft nach mit Oregano gebackenen Keksen, dem Geruch der Küche meiner Großmutter, einem Duft von Zuhause. Ich weiß auch noch gut, dass mein Vater immer eine verletzte Stimme hatte, wenn er über sein Zuhause sprach, wie er auf den Stufen der Al-Aqsa-Moschee saß und darauf wartete, dass sein Vater seine Predigt beendete, und ich konnte ihn immer mit Tränen in den Augen sehen, wenn er mich dazu ermunterte, Tonbänder aufzunehmen wie eine Reporterin, die der ganzen Welt die Nachrichten über das freie Palästina berichtete. Dennoch wagte ich es manchmal, ihn zu fragen: «Wenn ich auf der anderen Seite gewesen wäre, hätte ich dann alle Palästinenser gehasst?» Er wurde immer wütend, als er sagte, wir hätten ihnen nicht ihre Heimat genommen. Obwohl eine innere, leise Stimme mit der Vorstellung von zwei Seiten nicht zufrieden war, konnte ich seinen Schmerz verstehen. Als Teenager wollte ich für mein Land kämpfen und bewarb mich bei der Armee im Libanon, weil ich dachte, ich wolle für Palästina sterben. Der zuständige Mann kannte meinen Vater und mein Antrag wurde abgelehnt. Obwohl meine Mutter Syrerin ist, nannten mich meine Freund:innen in der Schule die Palästinenserin, und als ich vor 27 Jahren nach Deutschland kam, schrieb der Einwanderungsbeamte «heimatlos» auf meine Dokumente, weil ich ein syrisches Reisedokument für palästinensische Geflüchtete hatte.
Ich habe mich immer gefragt, was Heimat ist. Als halb syrische, halb palästinensische Englischlehrerin an der Interkulturellen Waldorfschule in Mannheim spreche ich mit meinen Schüler:innen, die aus verschiedenen Teilen der Welt kommen, über
Heimat. Wir haben noch keine eindeutige Antwort gefunden, aber wir wissen, dass Heimat auch außerhalb unserer physischen Welt existieren kann. Einige sagten, dass sich ihr Haus manchmal nicht wie ein Zuhause anfühlt, und wenn sie vor dem Krieg geflohen sind, fühlt sich ihr Land nicht wie ein Zuhause an. Ein Schüler definierte Zuhause wie folgt: «Zuhause ist der Ort in mir, bei dem ich am Ende eines anstrengenden Tages zur Ruhe komme.» Wenn die Zehntklässler:innen die Biografie von Nelson Mandela lesen, würdigen alle die Seele eines Mannes, der nach 25 Jahren im Gefängnis mit dem Ruf nach Versöhnung und Vergebung auftauchte. Wenn die Elftklässler:innen «The Freedom Writers Diary» lesen, sprechen wir über das Durchbrechen des Kreislaufs des Hasses. Ich beginne damit, ihnen zu erzählen, wie ich den Kreis durchbrochen habe. Ich hege keinen Hass gegen Juden, ich hege keinen Hass gegen Israelis. Ich missbillige entschieden Ungerechtigkeit und die leise Stimme dieses kleinen Mädchens, das ich einst war, wird dann laut und selbstbewusst: Es gibt nicht zwei Seiten, es gibt nur eine Seite, und das ist die Wahrheit. Du kannst die Wahrheit nicht erzwingen, die Wahrheit ist Liebe und Liebe wartet geduldig an den Türen unserer Herzen. Ich bin überzeugt, dass der Kampf gegen Ungerechtigkeit mit dem aufmerksamen Lauschen auf die Stimme in unseren Herzen beginnt. Unsere Gedanken haben das Potenzial, nicht nur unsere eigenen Schicksale zu formen, sondern auch positive Veränderungen im globalen Maßstab zu beeinflussen. Wie Gandhi weise sagte: «Auf sanfte Weise kannst du die Welt erschüttern.»
Es ist uns Waldorflehrer:innen ein Privileg, Wissen zu vermitteln, das über den intellektuellen Bereich hinausgeht und den Kern der Herzen unserer Schüler:innen erreicht. Gleichzeitig gewinnen wir tiefgreifende Einblicke aus der Reinheit ihrer Herzen. In unserer zeitgenössischen Ära befürworten meine Schüler:innen nicht die Idee des Krieges als eine tragfähige Lösung. Oft denke ich, dass meine Schüler:innen so weise sind, dass, wenn sie die Welt regieren würden, Frieden herrschen würde.
Ausgabe 05/24
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