Ausgabe 04/25

Literaturdidaktik trifft Anthropologie

Heidi Käfer
Heidi Käfer


Erziehungskunst | Frau Schumacher, Ihr Buch trägt den Titel Bild und Zeichen – Sprachliche Grenzphänomene als Ansatzpunkt für eine Sprach- und Literaturdidaktik an Waldorfschulen. Worum geht es genau?

Rita Schumacher | Es geht vor allem um eine spezifische Auffassung von Sprache. Es geht meines Erachtens im Literaturunterricht nicht nur darum, literarische Werke zu behandeln oder Sprachkompetenzen zu fördern. Vielmehr bin ich überzeugt, dass jedem literaturdidaktischen Ansatz eine jeweils spezifische Auffassung von der Sprachfähigkeit des Menschen zugrunde liegt. Eine solche Sprachauffassung möchte ich in meinem Buch verdeutlichen und für den Unterricht fruchtbar machen.

EK | Können Sie diese Sprachauffassung erläutern?

RS | Gerne. Der Titel des Buches verweist ja auf «Bild und Zeichen». Ich betrachte Bild und Zeichen als Grundphänomene der Sprache – und zugleich als anthropologische Grundphänomene. Dabei gehe ich von einer weiten Definition dieser Phänomene aus, die das Bildhafte und Zeichenhafte nicht nur als sprachliche Mittel begreift, sondern als Tore zur Welt- und Selbsterfahrung: Was bedeutet es, dass der Mensch ein bildhaftes Vermögen besitzt? Was heißt es, dass wir Zeichen schaffen und deuten können? Um dies zu ergründen, lasse ich mich von moderner Sprachphilosophie und Bildtheorie inspirieren – etwa von Charles Taylor oder Josef Simon. Aber ich versuche, diese Theorien nicht abstrakt zu belassen, sondern sie immer an konkrete Bildungserfahrungen zu knüpfen, teils aus meiner eigenen Kindheit, teils aus Beobachtungen im Unterricht.

EK | Und wie bringen Sie das mit der Waldorfpädagogik zusammen?

RS | Das ist ein zentraler Punkt. Ich stelle diese sprachphilosophischen Überlegungen in Beziehung zu Rudolf Steiners anthropologischen Entwürfen, vor allem aus der Allgemeinen Menschenkunde. Für mich ist Steiner in vielerlei Hinsicht anschlussfähig an moderne Theorien, weil er menschliche Vermögen wie Sprache und Denken einerseits allgemein im Gesamtkontext des Menschseins beleuchtet und andererseits an ganz konkreten Phänomenen des täglichen Lebens beschreibt.

Eine wichtige Brücke zwischen Philosophie und Anthropologie schlägt dabei der Philosoph Ernst Cassirer, der zeitgleich mit Steiner lebte. Cassirer beschreibt den Menschen als ein Wesen, das Bilder und Zeichen erschafft. Er zeigt auf, wie wir uns selbst und die Welt durch symbolische Tätigkeiten erschließen. Mit symbolischen Tätigkeiten ist ein unmittelbar kreatives Weltverhältnis gemeint, wonach der Mensch in seinem Bewusstsein nicht nur Wirklichkeit reproduziert oder konstruiert, sondern auf vielfältige Weise tatsächlich in einen schöpferischen, gestaltenden Bezug zu seiner Mitwelt tritt. Das kann sich in praktischen, gestaltenden Tätigkeiten äußern, aber eben auch in sprachlicher und gedanklicher Form. Diese Grundannahmen verbinden sich für mich mit Steiners Ideen und liefern eine Begründung für die Art von literarischen Bildungserfahrungen, die wir im Waldorfunterricht ermöglichen möchten. Ich meine damit die Erfahrung einer poetischen Wirklichkeit in der Begegnung mit literarischen Texten, die Literatur weder bloß als Repräsentation gegebener Wirklichkeit noch als reine Gebilde einer frei schwebenden Einbildungskraft auffassen, sondern eben als eine eigenständige Art von symbolischem Weltbezug.

EK | Sie haben auch von Herausforderungen der Gegenwart gesprochen. Können Sie ein Beispiel geben?

RS | Eine Herausforderung ist der Umgang mit medialen und digitalen Phänomenen, wie etwa Deepfakes oder Fake News. Jugendliche sind heute zunehmend mit Bildern und Texten konfrontiert, deren Wahrheitsgehalt schwer einzuschätzen ist. Das kann dazu führen, dass sie ihren eigenen Wahrnehmungen nicht mehr trauen und das Vertrauen in ihre Urteilskraft verlieren. Sprachliche und ästhetische Bildung sollte den jungen Menschen Werkzeuge geben, um mit solchen Phänomenen umzugehen. Es reicht aber nicht, einfach Fakten von Fakes zu unterscheiden. Es geht darum, das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass Geschichten und Narrative eine zentrale Rolle dabei spielen, wie wir die Welt verstehen.

EK | Wie kann der Literaturunterricht konkret dazu beitragen, Weltvertrauen zu fördern?

RS | Eine große Chance des Literaturunterrichts liegt darin, dass er Sprache nicht nur als Mittel zur Informationsübertragung oder Emotionsäußerung behandelt. Literatur ermöglicht es, Sprache sinnlich zu erleben und als Begegnungsraum mit der Welt zu erfahren. Dies kann durch die Beschäftigung mit poetischer Sprache geschehen, die den ästhetischen und sinnlichen Aspekt von Sprache erfahrbar macht. Es kann auch durch kreatives Schreiben geschehen, bei dem die Schüler:innen selbst schöpferisch tätig werden. Und es geschieht vor allem durch vertiefende Gespräche, die literarische Inhalte mit existenziellen Fragen verbinden. So wird Literaturunterricht ein Raum für echte Resonanz.

EK | Sie arbeiten nicht nur als Autorin, sondern auch als Dozentin in der Lehrer:innenbildung und als Oberstufenlehrerin. Welche Themen beschäftigen Sie in der Ausbildung von Lehrkräften?

RS | Ein Beispiel ist die Arbeit mit Weltliteratur. In meinem Buch habe ich das bereits angeschnitten, aber ich möchte dies in Zukunft stärker in den Fokus rücken. Die Beschäftigung mit Texten aus unterschiedlichen Kulturen ermöglicht nicht nur literarische Bildung, sondern auch kulturelle Übersetzungsarbeit. Wie kann Unterricht ein Übersetzungsvorgang sein, der Brücken zwischen Kulturen und Generationen schlägt? Dieses Thema wird auch bei der internationalen Oberstufentagung 2025 in Kassel im Mittelpunkt stehen mit dem Titel Verstehen ist Übersetzen – Unterricht als Übersetzungsvorgang.

EK | Vielen Dank für das Gespräch!

Kommentare

Es sind noch keine Kommentare vorhanden.

Kommentar hinzufügen

0 / 2000

Vielen Dank für Ihren Kommentar. Dieser wird nach Prüfung durch die Administrator:innen freigeschaltet.