Erziehungskunst | Warum benötigen die Waldorfschulen einen neuen Geschichtslehrplan?
M. Michael Zech | Im Dezember 2022 startete in Kassel das Projekt Reform des Geschichtsunterrichts, bei dem wir uns intensiv mit dem Thema Dekolonisierung in der Kulturgeschichte der Waldorfschulen auseinandersetzen. Wir waren etwa 30 Personen, darunter Klassenlehrer:innen und Fachkolleg:innen, und haben zunächst den aktuellen Zustand des Geschichtsunterrichts analysiert. Dabei stellten wir fest, dass an vielen Schulen immer noch esoterische Inhalte unterrichtet werden – entgegen Steiners Empfehlungen und den seit über 20 Jahren geltenden Richtlinien des Bundes der Waldorfschulen.
Ein zentrales Problem ist die Konzeptkonstanz, besonders im Geschichtsunterricht. Viele Lehrkräfte beginnen den Unterricht mit mythischen Konstrukten, etwa Ur-Indien oder Ur-Persien, obwohl es dafür keine archäologischen oder historischen Belege gibt. Steiners Zeitdatierungen aus den 1920er Jahren entsprechen ebenfalls nicht dem heutigen wissenschaftlichen Stand. Diese narrative Tradition hat sich jedoch so stark verfestigt, dass sie weltweit als typisch für die Waldorfpädagogik gilt. Wir müssen uns jedoch der Verantwortung stellen, diese Themen im Licht moderner wissenschaftlicher Erkenntnisse zu betrachten.
EK | Was ist die Grundlage für Steiners Geschichtsvorstellungen, und wie gehen Sie damit um?
MZ | Steiners Kulturgeschichte basiert auf einer Geschichte der Entwicklung vom unbewussten Gruppenbewusstsein hin zum urteilsfähigen Individuum. Er beschreibt bestimmte Lebensweisen, etwa in Verbindung mit der Natur, als Ausdruck spezifischer Bewusstseinshaltungen. Diese Perspektive wollen wir beibehalten, aber in den Kontext heutiger Wissenschaft stellen. Deshalb haben wir mit dem Forum Geschichte einen umfassenden Reformprozess gestartet. Unter diesem Dach laufen 30 Projekte, die sich mit konkretem Unterricht und übergeordneten Themen befassen. Unsere Initiative setzt auf vielfältige Formate – Publikationen, Podcasts und Interviews – um einen breiten Dialog anzustoßen.
Martyn Rawson | Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Dekolonisierung. Ich habe in der Vergangenheit Artikel dazu im Journal für Waldorfpädagogik veröffentlicht, und daraus entstand später das Buch: Waldorfschule, Globalisierung und Postkolonialismus, das ich mit Frank Steinwachs herausgegeben habe. Dekolonisierung bedeutet auch, Themen wie Kolonialismus und Sklaverei angemessen im Unterricht zu behandeln. Ein Problem ist, dass Steiners Kulturepochen-Narrativ strukturell eine rassistische Lesart ermöglichen kann. Bleibt man eng an Steiners Konzept, entsteht eine Hierarchie, die europäische Entwicklungen überhöht.
MZ | Hinzu kommt, dass es in der Weltöffentlichkeit zunehmend historische Verschwörungstheorien gibt, wie etwa in Graham Hancocks Netflix-Serie Ancient Apocalypse. Diese Narrative vermischen Mythos, Fantasy und Geschichte, was es für Lehrer:innen schwierig macht, solche Themen kritisch und fundiert zu behandeln. Hinzu kommt: historische Deutungen verändern sich laufend. Ein Beispiel ist Göbekli Tepe, eine archäologische Fundstätte in der Türkei. Die Deutungen dieses Ortes haben sich in den letzten Jahren radikal verändert. Solche Entwicklungen sind für die Oberstufe spannend, doch für jüngere Klassen oft zu komplex.
MR | Ein weiteres Problem ist die weit verbreitete Literatur mit «halbverdauten» anthroposophischen Ideen, die als Grundlage für den Geschichtsunterricht dient. Dazu gehören etwa die Bücher von Charles Kovacs, die viele überholte Inhalte enthalten. In Deutschland wurden sie inzwischen vom Markt genommen, aber international bleiben sie Bestseller.
EK | Wie reagieren Lehrkräfte und die Öffentlichkeit auf Ihre Reformbemühungen?
MZ | Die Reaktionen sind gemischt. Viele empfinden das Projekt als befreiend, da sie die Widersprüche zwischen heutiger Wissenschaft und dem bestehenden Unterricht schon lange spüren. Andere sorgen sich jedoch, dass wir Steiner und den kulturgeschichtlichen Ansatz der Waldorfpädagogik über Bord werfen könnten.
Dann gibt es eine kleine, aber lautstarke Gruppe, die unsere Arbeit vehement ablehnt. Diese Menschen werfen uns vor, Steiner «aus der Waldorfschule entfernen» zu wollen. In Extremfällen versuchen sie sogar, uns persönlich zu diskreditieren.
MR | Solche Angriffe sind schwierig, aber wir bemühen uns, differenziert zu bleiben und auf berechtigte Sorgen einzugehen. Ein Beispiel ist die Angst, dass wir den zentralen Gedanken von Kulturgeschichte als Ausdruck menschlicher Bewusstseinsentwicklung verlieren könnten.
MZ | Steiner hat Epochen teils kosmisch abgeleitet, etwa durch den Frühlingspunkt im Tierkreis. Daraus entstand die Idee, dass in bestimmten Zeiträumen entscheidende Entwicklungen stattfinden – eine Vorstellung, die sich nach heutigen Erkenntnissen nicht halten lässt. Beispielsweise datiert Steiner Ackerbau und Viehzucht in die «Urpersische Epoche» um 5000 vor Christus. Heute wissen wir, dass diese Entwicklungen bereits 10.000 bis 11.000 Jahre vor unserer Zeit stattfanden.
Wir wollen Steiners Entwicklungsidee nicht verwerfen, sondern transformieren. Doch es ist wichtig, dass wir Aussagen, die wissenschaftlich nicht haltbar sind, nicht weiterverbreiten. Andernfalls laufen wir Gefahr, die Waldorfpädagogik ins Abseits zu drängen.
EK | Welche Herausforderungen gibt es bei der internationalen Arbeit?
MR | Die deutsche Waldorfliteratur hat weltweit großen Einfluss. In vielen Regionen begegnen wir jedoch Menschen, die sich durch Steiners Kulturgeschichte ausgeschlossen fühlen, weil ihre Kulturen darin kaum vorkommen oder negativ dargestellt werden. Dekolonisierung bedeutet hier, diesen Menschen zuzuhören und ihre Perspektiven in die Erzählung einzubinden.
MZ | Ein Beispiel ist der Begriff Heimatkunde. Steiner verwendete eigentlich den neutraleren Begriff Sachkunde, doch Heimatkunde hat sich durchgesetzt und wird oft emotional aufgeladen. In einer Masterarbeit wurde gezeigt, wie problematisch dieser Begriff in interkulturellen Klassen ist. Kinder sollen nicht eine romantisierte Vorstellung von Heimat entwickeln, sondern ihre Umgebung bewusst wahrnehmen. Ich plädiere daher für den Begriff Ortskunde, der geografische und historische Aspekte verbindet.
MR | Letztlich geht es darum, die Waldorfpädagogik zukunftsfähig zu machen. Wenn wir an überholten Konzepten festhalten, riskieren wir, dass ihre Gestaltungskraft schwindet. Junge Menschen, die Lehrer werden möchten, bringen oft großes Interesse mit, werden aber vor Ort in der Schule oft auch enttäuscht. Wir müssen neue Positionen entwickeln und verteidigen, um die Waldorfpädagogik attraktiv und relevant zu halten.
MZ | Dabei ist es entscheidend, Steiners Werk differenziert zu lesen und zu verstehen. Albert Schmelzer arbeitet aktuell daran, Steiners Vortragswerk systematisch zu analysieren, um zu verstehen, welche Einflüsse und Überlegungen seine Ansichten geprägt haben. Diese Arbeit ist notwendig, um die Waldorfpädagogik auf eine solide Basis zu stellen, die mit heutigen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Erkenntnissen übereinstimmt.
MR | Wir wollen nichts zerstören, sondern aus der Tradition heraus Neues entwickeln. Das ist dringend nötig, um die Waldorfpädagogik als lebendige und innovative Bewegung zu erhalten. Vor einigen Jahren habe ich im Auftrag des Bundesministeriums für Entwicklungshilfe Projekte in Vietnam, Kirgisien und dem Libanon evaluiert. Die Freunde der Erziehungskunst wurden finanziell unterstützt, und mein Bericht zeigte, dass die Projekte gut liefen. Was ich aber nicht im Bericht erwähnte, war die mangelnde Sensibilität der Freiwilligen für Kolonialismus und Postkolonialismus. Viele waren Waldorfschüler:innen, die sich nicht bewusst waren, wie problematisch es ist, als «weiße Europäer:innen» den «armen Natives» zu helfen. Das habe ich den Freunden mitgeteilt, und inzwischen gibt es Workshops zur Vorbereitung und Nachbereitung. Das zeigt: Es gibt Raum für Veränderung, auch wenn wir uns oft mit Fragen konfrontiert sehen, wie «Belasten wir Kinder mit dem Thema Sklaverei zu sehr?». Doch Kinder sind längst aufgeklärt – sei es durch Hollywood oder andere Einflüsse – und bringen oft eine erstaunliche Sensibilität für Gender- und Diskriminierungsfragen mit.
MZ | Die Reaktionen auf unsere Reformvorschläge zeigen, dass wir die Menschen erreichen. Natürlich gibt es Kritik – von aggressiven Gegenargumenten bis zu sorgenvoller Skepsis. Aber genau das ist wichtig: Diese Diskussionen bringen uns weiter. Was mir jedoch Sorge bereitet, ist die persönliche Abwertung von Kolleg:innen. Statt den Diskurs zu fördern, blockiert diese Haltung oft notwendige Qualitätsentwicklungen.
EK | Persönliche Angriffe sind leider ein gesellschaftliches Phänomen. Politiker:innen ziehen sich etwa aus dem Bundestag zurück, weil sie den Hass nicht mehr ertragen können. Wie gehen Sie und Ihr Team mit dieser Kritik um?
MZ | Solche Angriffe gehen einem schon an die Substanz, aber unser Team funktioniert gut, und wir erfahren auch viel Unterstützung. Wir müssen jedoch dringend die Arbeitsbedingungen verbessern. Viele Projektgruppen arbeiten neben ihrer regulären Tätigkeit. Das führt dazu, dass an manchen Schulen jahrzehntealte Materialien verwendet werden. Klassenlehrer:innen greifen auf veraltete Epochenhefte zurück. Wir brauchen eine Professionalisierung: Autor:innen, die Lehrmaterialien erstellen, sollten angemessen bezahlt werden. Momentan leisten viele diese Arbeit unentgeltlich, was auf Dauer nicht tragbar ist.
MR | Ein weiterer Bereich, den wir verbessern müssen, ist die Lehrerausbildung. In England funktioniert die Zusammenarbeit zwischen Hochschulen und Schulen hervorragend. Forscher und Lehrkräfte arbeiten eng zusammen, was in Deutschland leider noch selten der Fall ist. Hier müssten die Lehrerbildungsstätten stärker eingebunden werden.
MZ | Das Problem ist, dass wir mit der aktuellen Lehrerausbildung nur einen Bruchteil des Bedarfs abdecken. Viele Lehrkräfte stehen isoliert da. Früher hatten wir Tagungen mit Hunderten Teilnehmenden; heute sind Veranstaltungen mit 200 Personen schon groß. Wir setzen auf moderne Kommunikationsmittel wie Social Media und Podcasts, aber die Frage bleibt: Wie erreichen wir die Lehrkräfte wirklich?
MR | Es braucht nicht nur bessere Kommunikation, sondern auch eine Vision, die der Waldorfschulbewegung im 21. Jahrhundert Orientierung gibt. Traditionen allein reichen nicht aus. Schulen in Norwegen oder Finnland zeigen, dass es anders geht. Dort positionieren sich Waldorfschulen kulturell klar und sind als radikale, innovative Stimme anerkannt.
MZ | Ein Beispiel für positive Entwicklung ist unsere English Week. Seit 25 Jahren findet sie mit großem Erfolg statt, trotz der organisatorischen Herausforderungen. Solche Formate schaffen Begegnungen, stärken den Austausch und sorgen für Motivation.
Das Gespräch führte Angelika Lonnemann.
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