Ausgabe 07-08/24

Mehr als ein Arbeitsplatz

Luka Mescher

Die Werkstatt, in der ich im Advent 2022 mein Sozialpraktikum gemacht habe, nennt sich Schacht 3 und befindet sich in Bergkamen im Ruhrgebiet. Der Name spielt auf die ehemalige Nutzung durch Bergwerksarbeiter:innen an. Ich habe mich vor allem für das Sozialpraktikum in der Werkstatt entschieden, weil ich einmal etwas gänzlich Neues erfahren wollte. Dieses Praktikum bot mir eine Möglichkeit, neue Begegnungen mit dem Lebensschicksal anderer zu machen.

Meine Aufgaben bestanden darin, auszuhelfen, wo es gebraucht wurde. Dazu gehörte es, im Lager Pappkartons umzuräumen oder die Tische in der Kantine zu desinfizieren. Fehlte einmal ein:e Arbeiter:in, so habe ich manchmal auch an dieser Stelle bei einem Arbeitsschritt ausgeholfen. Insgesamt stand es mir relativ frei, wo ich aushelfen wollte, daher konnte ich den Tag flexibel gestalten. Weil mir der soziale Aspekt des Praktikums wichtig war, habe ich viel Zeit im Gespräch mit den Menschen verbracht.
Als ich mein Praktikum begann, hatte die Werkstatt eine «gute» Woche. Die Stimmung war ruhig, die Menschen arbeiteten kontinuierlich und produktiv. Die meiste Arbeit wird dort zusammen verrichtet. So fängt jemand mit den ersten beiden Arbeitsschritten an, gibt das Produkt weiter, die nächste Person macht die nächsten zwei Schritte, gibt es erneut weiter und so fort. Ist das Produkt fertig zusammengeschraubt, wird es vom Prüfer, ebenfalls ein Mensch mit Beeinträchtigung, abgenommen und zur Verpackung freigegeben. An «guten» Tagen klappt das ganz gut, es kann aber auch vorkommen, dass jemand in der Produktion die Lust verliert oder anfängt zu träumen. Dann stoppt die gesamte Produktion. Den anderen schien das aber nichts auszumachen. So ist es auch vorgekommen, dass eine halbe Stunde lang nicht gearbeitet wurde. Solange die Produktherstellung jedoch noch in einem gewissen Zeitfenster verläuft, ist das kein Problem. In meiner Praktikumszeit arbeitete die Werkstatt an zwei verschiedenen Typen von Gartensteckdosen der Firma BEGA. Diese Firma ist bekannt für ihre gute Qualität und ihr Made-in-Germany-Image. Die Vorgaben für die Steckdosenherstellung waren durchaus penibel, so musste etwa der Aufkleber mit dem QR-Code auf der Verpackung genau jeweils einen Zentimeter vom Rand aufgeklebt werden. Die Menschen in der Werkstatt sind jedoch mittlerweile sehr vertraut mit den Produkten, weswegen man mit sehr guter Qualität rechnen kann. Ab und zu kam es mal zu Fehlern, aber das ist natürlich menschlich. Viele Arbeitsschritte habe ich selbst auch mal gemacht und manche brachten mich wirklich zur Verzweiflung! Wo ich es schaffte, eine Steckdose in zehn Minuten fummelig zu verkabeln, schaffte Markus drei Steckdosen in derselben Zeit.

Markus war der gesprächigste Mensch in der Werkstatt und der erste, mit dem ich richtig Kontakt aufnahm. Das Unterhalten mit den Arbeiter:innen wirkte oft so auf mich, als würde ich mich mit Kindern unterhalten. Das passierte etwa, als Markus begann zu erklären, dass Bergkamen im Tiefdruckgebiet liegt und warum es deswegen bei uns schneit, oder wenn er mir erzählt, dass er eigentlich Medizin studieren wollte. Markus arbeitet seit über 26 Jahren in dieser Werkstatt. Die 45 Jahre von Reiner an der Verpackung toppt er damit allerdings noch nicht. Langweilig wird es Markus nicht, sagt er.

Am Ende des Praktikums hatte ich mit allen mindestens ein Gespräch geführt. Ein unerwartet schöner Moment war, als Sascha, ein Mensch mit Downsyndrom, mich bat, in sein Freundschaftsbuch zu schreiben. Sascha ist dafür bekannt, in der Pause gerne mit seinen Kopfhörern Schlager zu hören und im Gang zu tanzen. Der Gruppenleiter Daniel ist einer von den jungen Gruppenleiter:innen und arbeitet erst seit einem halben Jahr in der Werkstatt. In den Gesprächen merkte man, wie viel Leidenschaft er für die Werkstatt hat. Er erzählte mir, dass die Werkstatt keine Endstation für die Menschen sei, viel mehr habe jede:r die Chance, von der Werkstatt aus wieder in das normale Arbeitsleben zu finden, auch wenn sich das als schwierig erweisen kann. Tatsächlich schaffen es im Jahr etwa drei Prozent der Arbeiter:innen, in das normale Berufsleben zu finden.

Für viele Menschen aus der Werkstatt gibt es außerhalb der Arbeit nicht viel, was sie erleben, außer im Wohnheim oder bei den Eltern Fernsehen zu gucken und ab und zu mal mit der Betreuerin zum Beispiel über den Weihnachtsmarkt zu gehen. Deswegen ist es wichtig, nicht immer nur auf das Arbeiten zu schauen, sondern auch mal Dinge außerhalb zu tun. So haben wir in meiner Praktikumszeit zweimal früher Schluss gemacht, um uns einen Weihnachtsfilm auf einer Leinwand anzugucken, an Nikolaus gab es ein großes Nikolausessen mit Stutenkerlen. Die Werkstatt ist also mehr als nur ein Arbeitsplatz. Dennoch ist die Bezahlung ist zu niedrig, da die Arbeiter:innen gesetzlich keinen Anspruch auf den Mindestlohn haben. Laut Ministerium für Arbeit und Soziales verdient ein Mensch mit Behinderung in einer Behindertenwerkstatt rund 220 Euro im Monat. Ich finde, dass sie keinen Mindestlohn bekommen, schließt sie als Menschen in unserer Gesellschaft aus. Dabei ist mir selten so viel Menschlichkeit entgegengekommen wie in meinem Praktikum. Dennoch ist anzumerken, dass sie mit Hilfe der EU-Rente grob abgesichert sind.

Ich finde es wichtig, dass es Werkstätten wie den Schacht 3 gibt. Sie geben den Menschen, die es nicht so leicht haben wie der Rest der Gesellschaft, einen Arbeitsplatz und somit auch einen Sinn. Man zeigt den Menschen mit Behinderung, dass sie eben nicht egal sind und fängt sie auf. Ich empfehle jeder Person, einmal ein Praktikum in einer Werkstatt für Menschen mit Handicap zu machen, denn so bekommt man die Möglichkeit, sich einen neuen Eindruck unserer Gesellschaft zu machen, vor allem von denen, die oft nicht so viel Beachtung finden, wie sie es verdienen.

 

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