Ausgabe 07/08/25

Mehr Inklusion wagen!

Ulrike Barth


Waldorfpädagogik versteht sich von ihren Grundlagen her und aus dem Gründungsimpuls heraus als Pädagogik für alle Kinder und Jugendlichen. In der Geschichte der Waldorfpädagogik etablierten sich jedoch schnell zwei Schulformen, nachdem Rudolf Steiner bereits 1919 eine Hilfsklasse für Kinder einrichtete, die dem Unterricht nicht gut folgen konnten. In den letzten Monaten hatte ich intensive Kontakte zu zwei jungen Frauen. Charlotte Henning lebt mit dem Down-Syndrom und hat den Traum, selbst pädagogisch zu arbeiten. Darin Jarade hat ihren Master an der Alanus Hochschule am Standort Mannheim mit dem Schwerpunkt Inklusion abgeschlossen und ist selbst Lehrerin an einer heilpädagogischen Waldorfschule. Sie wünscht sich, dass das Erkennen von Potenzial in Kindern nicht dem Zufall überlassen wird. Sie wünscht sich Schulen, die alle Kinder aufnehmen.

Beide jungen Frauen habe ich eingeladen, ihre Träume und Visionen mit mir zu teilen. Auf der Mitgliederversammlung des Bundes der Freien Waldorfschulen im März in Hannover-Bothfeld haben wir uns zu dritt mit unseren Erfahrungen und unserer Haltung einem sehr aufgeschlossenen Publikum präsentiert.

Studierende: achtsam und partizipativ


Zunächst jedoch ein Blick in ein Seminar im Bachelor-Studiengang Waldorfpädagogik an der Alanus Hochschule. Es folgt eine Wahrnehmungsvignette aus einer Lehrveranstaltung. Wahrnehmungsvignetten sind eine Forschungsmethode, zu der uns Studierende angeregt haben und die meine Kollegin Angelika Wiehl und ich erforscht haben. Sie vollziehen in einem gewissen Maße Serendipität. Serendipität bezeichnet das Stolpern über eine Sache, nach der man nicht gesucht hat, die ein Problem aber auf überraschende Weise löst.

Mein Seminar zu inklusiver Pädagogik im dritten und letzten Bachelorjahr ist in vollem Gange und ich habe den Index für Inklusion vorgestellt. Der Index für Inklusion ist ein Leitfaden für die Entwicklung von Bildungseinrichtungen auf der Basis inklusiver Werte. Es geht darum, Einschränkungen, Diskriminierungen und Barrieren zu erkennen und durch Fragen können Ideen entstehen, diese abzubauen. Die Studierenden haben in Gruppen Stolpersteine und Ideen-Sterne gesammelt – eine kleine Übung, die ihnen die Arbeit mit den Fragen des Index für Inklusion schmackhaft machen soll. Im Anschluss entspinnt sich ein Gespräch über den Index für Inklusion und eine Studentin, die meine Begeisterung gespürt hat, fragt vorsichtig: «Darf ich auch kritisch sein?» Sie fährt fort: «In unserer Arbeitsgruppe haben wir uns gefragt, ob diese Fragen des Index nicht vielleicht für Menschen sind, die ein bisschen zu faul sind, um nachzudenken? Das, was dort steht, ist doch selbstverständlich.» Aus einer anderen Ecke des Raumes meldet sich ein Student und sagt: «Ich glaube, dass Ihre Generation noch nicht verstanden hat, dass wir diese Fragen nicht mehr brauchen.» Die erste Reflexion zu einer Wahrnehmungsvignette erfolgt immer ganz spontan und individuell. Meine ist kurz: «Puh, wow, … wie bitte?». Nach längerem Nachdenken, tieferem Reflektieren und Abgleichen mit Wissen – die zweite Reflexionsebene – bin ich von diesen jungen Menschen, die bei uns studieren, beeindruckt. Sie tragen Achtsamkeit, ein tiefes Gefühl für Partizipation, Liebe und Gemeinschaft in sich. Jede Schule, die eine:n von ihnen als Lehrkraft einstellt, kann sich freuen. Sie haben diese Fragen des Indexes für Inklusion in sich. Sie können unsere Diskussion über eine Waldorfpädagogik für alle nicht verstehen. Sie sind erschüttert, wenn sie in Schulen Aussonderung und Beschämungen von Kindern und Jugendlichen erleben und sind auch nach Abschluss ihres Studiums froh, sich immer wieder auszuloten und zu reflektieren, für das, wofür sie angetreten sind.

Einerseits hat Rudolf Steiner schon 1919 eine Hilfsklasse eingerichtet, andererseits zeugen die Vorträge von Rudolf Steiner, die unmittelbar mit der Gründung der ersten Waldorfschule begannen, von einem Bestreben, eine allgemeine Pädagogik für alle Kinder zu schaffen und zeitaktuell zu verwirklichen.

Grundlagen der Pädagogik


Es gibt in der Waldorfpädagogik eine allgemeine Basis, die an allen Schulen vertreten wird: Das Menschenbild spricht die Gemeinschaft als Ort der Entwicklung an und der Unterricht ist als Entwicklungsanregung gedacht und soll kindliche Entwicklung unterstützen. Der Unterricht wird zyklisch strukturiert, ganzheitlich angelegt und es gibt kein festes Curriculum, sondern nur eine Richtlinie. Vor allem gelten die Lehrpläne über alle Schulformen hinweg. Die Kinder und Jugendlichen arbeiten an gemeinsamen Gegenständen, die oftmals als Projekte über mehrere Wochen angelegt sind, gehen von Phänomenen aus und erarbeiten sich diese auf Grundlage verschiedener Zugänge und ziehen eigenständig ihre Schlüsse aus dem Erarbeiteten. Insbesondere durch die epochale Struktur im Unterricht gibt es viel Freiraum für Unterrichts-, Lehr- und Lernsituationen. Personalisierung, Individualisierung und Differenzierung sind im Unterricht vorgesehen und mitgedacht. Lehrkräfte werden ermutigt, ihrer Intuition und Kreativität zu folgen, wenn es um die Vermittlung von Wissen und die Gestaltung des Unterrichts geht. Teamarbeit mit dem vielfältigen Können der Kolleg:innen ist Programm und soll und darf umgesetzt werden.

Während der Schulzeit an einer Waldorfschule gibt es idealerweise eine personale Kontinuität über lange Phasen hinweg. Die Lehrkräfte arbeiten eng zusammen, treffen sich wöchentlich zum Austausch, arbeiten im Team und leiten die Schule selbst verwaltet und in gleichberechtigter Struktur. Die Schulgemeinschaft bildet eine mindestens zwölfjährige soziale Gemeinschaft, es erfolgt keine Selektion und auch keine Leistungsbeurteilung nach Noten. Die Zeugnisse sind ausformulierte Entwicklungsberichte. Viele Waldorfschulen führen Noten erst mit den staatlichen Abschlüssen ein. Manche verzichten bis zur zehnten Klasse darauf. Es gibt an vielen Schulen neue Lern- und Dokumentationsformen wie Portfolios, die über lange Zeit geführt sogar das Potential für einen eigenen wertvollen Abschluss bieten. Diese Grundvoraussetzungen der Waldorfpädagogik bilden ihr Fundament auf einem Wissen über kindliche Entwicklung und kindliches Lernen. In jeder Ausbildung für zukünftige Waldorfpädagog:innen wird vermittelt, die Lernausgangslage der Kinder und Jugendlichen zu erfassen und dann mit waldorfpädagogischem Handeln, das Lernen für alle durch Kunst, Musik, Ästhetik, Theater, Handwerk und Bewegung vorsieht, zu reagieren. Außerdem gilt sogenanntes Beziehungswissen als wichtige Säule, die durch die lange Gemeinschaft unterstützt und gelebt wird. Wissen über Kooperation, multiprofessionelles Arbeiten im Team und mit Eltern sind zusätzliche bedeutsame Säulen, die die Waldorfpädagogik tragen.

Rudolf Steiner wünschte sich, dass Lehrkräfte an sich arbeiten und sich ständig weiterentwickeln, gleichzeitig auch selbstfürsorglich sein sollten. Diese Weiterentwicklung betrifft auch die Praxisforschung im und am Unterricht: Reflexives Handeln als Programm. Selbsterziehung schließt die in den vergangenen Jahren sehr intensiv bearbeitete Achtsamkeit in Schule für Lehrkräfte, Kinder und Jugendliche sowie alle Mitarbeitenden und die Eltern ein.

Waldorfschule als Vorschule fürs Leben


Die oben genannten menschenfreundlichen Aspekte der Waldorfpädagogik sind das beste Fundament, dass jede Waldorfschule Inklusionsschule sein kann. Waldorfschulen sind Schulen in freier Trägerschaft, sie können eigene Wege gehen und manche Vorgaben kreativ, flexibel und zeitgemäß umsetzen. Als Argument gegen inklusive Waldorfschulen werden oft auch die hohe Belastung der Klassenlehrkräfte durch die starke Individualisierung der Schüler:innen, deren Bedürfnisse genannt. Rudolf Steiner argumentierte, wir sollten uns von der Zeit und der Umgebung leiten lassen: «Die Waldorfpädagogik entwickelt sich von Tag zu Tag. Die Anforderungen des Lebens entscheiden über die Inhalte.» Nichts darf also festgeschrieben sein, das Leben verändert sich täglich und danach sollen Lehrkräfte handeln. Waldorfschule ist eine Vorschule fürs Leben. Schüler:innen lernen nicht, um Inhalte wiedergeben zu können, sondern um sich zu befähigen, fortwährend vom Leben zu lernen. Steiner legte großen Wert darauf, dass die Schüler:innen nicht zu Weltfremdheit erzogen werden. Er wies an verschiedenen Stellen seiner Vorträge darauf hin, dass jede:r sich überlegen muss, was und warum sie oder er es macht. Es gibt kein festes Regelwerk.

Was also können wir tun? Der britische Pädagoge Lawrence Stenhouse (1926-1982) sagte in einem ähnlichen Sinne wie Rudolf Steiner: «Es sind die Lehrkräfte, die am Ende die Welt der Schule verändern werden, indem sie sie verstehen.» Und er schlägt vor, forschend zu unterrichten, denn «nur  Lehrkräfte selbst können Lehrkräfte verändern.» Wir leben in einer herausfordernden Zeit und ich bin aus Erfahrung und als Wissenschaftlerin fest davon überzeugt, dass Waldorfschulen das Potential für eine inklusive Pädagogik haben. Wo, wenn nicht in diesen Schulen, können wir etwas in diese Welt hineinentwickeln, was aus der Zukunft gefragt ist. In dieser Zeit voll Disruption brauchen wir etwas, das uns hält – und das kann eine Gemeinschaft sein, die trägt, und in der ein Miteinander erleb- und spürbar ist und in der Verantwortung für alle übernommen wird.

Zurück zu den zwei jungen Frauen: Richten wir uns aus an deren Träumen und Visionen. Es ist machbar, gemeinsam. Werden wir eine Wollensgemeinschaft! Fast alles ist möglich, wenn wir nur wollen und das Alltägliche mit dem Außergewöhnlichen durchdringen. Dies entspricht der Zeit, in der wir leben. Übergeben wir hoffnungsfroh den mutigen empowerten jungen Menschen einen Schaffensort, den sie sich erträumen. Unterstützen wir sie liebevoll dabei, diesen Ort in ihrem Sinne zu entwickeln. 

Auf Wunsch können Sie eine Literaturliste zu diesem Artikel bekommen sowie die exakten Quellenangaben zu den Zitaten von Rudolf Steiner. Schreiben Sie an redaktion@erziehungskunst.de

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