Ausgabe 01-02/25

Mehrdimensionaler Geschichtsunterricht

Michael Zech


Langsam färbt sich die grüne Tafel blau. Immer mehr. Ein Klassenlehrer holt den Atlantischen Ozean ins Klassenzimmer der siebten Klasse. Mitten hinein malt er ein großes hölzernes Schiff mit großen weißen Segeln. Die Entdecker-Epoche beginnt. «Das ist ein wichtiger Stoff, an dem die Kinder oft viel Freude haben. Aber schon der Name der Epoche ist unter heutigen Gesichtspunkten nicht mehr angemessen», sagt Stephanie Sell, Klassenlehrerin an der Freien Waldorfschule Augsburg und Mitglied im Vorstand des Bundes der Freien Waldorfschulen. Die Seefahrer nur als Entdecker einzuführen, sei bagatellisierend und beschönigend. Denn wie heute bekannt ist, haben sie erobert, getötet, in Besitz genommen, Menschen versklavt und Kulturen unterdrückt oder gar ausgelöscht. Ein Beispiel ist der portugiesische Königssohn, der später als Heinrich der Seefahrer bekannt wurde. Auch hinter seinen Fahrten hätten vor allem wirtschaftliche und nicht etwa missionarische Interessen gestanden, ordnet Sell ein. Ziel Heinrichs war es, den Handel mit Indien, der zu dieser Zeit durch die Araber kontrolliert wurde, durch die Umfahrung Afrikas auf eigene Füße zu stellen. In vielen Waldorfschulen würde den Kindern aber noch immer erzählt, Heinrich der Seefahrer hätte aus moralischen Gründen gehandelt und das Christentum in die Welt tragen wollen. «Dabei ist es doch in Ordnung, wirtschaftliche Interessen auch als solche zu benennen. Es muss doch nicht alles heilig ummantelt sein, um als Motiv zu gelten», findet Sell, zumal diese Altersgruppe ein hohes Interesse an wirtschaftlichen Zusammenhängen aufweist. Der Entschlusskraft und dem bewundernswerten Orientierungssinn, mit denen seine Seefahrer sich überaus präzise durch die Weltmeere bewegt haben, täte das schließlich keinen Abbruch. Es sei schlicht der andere Teil der Wahrheit.

Weitergereichte Epochenhefte


Sell schildert damit eine Geschichtsstunde, wie sie nach unserem Dafürhalten in Deutschland noch viel zu oft gehalten wird und wie sie aber längst nicht mehr zeitgemäß ist. Valide Daten zum Ist-Zustand des Geschichtsunterrichts liegen zwar nicht vor, die Teilnehmenden des Forums Geschichte konnten aus ihren fachlichen und institutionellen Kompetenzen heraus aber dennoch zu einer differenzierten Aussage gelangen. In der Regel verantworten die Klassenlehrer:innen den Geschichtsunterricht der Klassen fünf bis acht. Wir stellten fest, dass sich dabei viele konstant an ein Konzept halten, das einem vor über einhundert Jahren angeregten und nach 1945 dann schrittweise kanonisierten Inhalt und Aufbau folgt. Mangels neu aufbereiteten Materials dienen dazu als Referenzen vor allem die intern weitergereichten Epochenhefte vorangegangener Lehrkräfte, die heute zudem bequem online verfügbar sind, sowie veraltete Handreichungen. Die seit über 20 Jahren durch Publikationen und teilweise auch in den Lehrkräfteseminaren vermittelte interne Kritik an der Übernahme esoterischer Inhalte, aber auch an einer fiktiven Geschichte alter Kulturen, die sich auf Steiners Anthroposophie beruft, erwies sich gegenüber dieser Konzeptkonstanz als ohnmächtig. Vielfach führte sie noch immer nicht zu einer nachhaltigen Behebung solcher Fehlinformationen. Eine problematische, unhinterfragte Epochalisierung und falsche Datierung, insbesondere aber ein hierarchisierendes Kulturverständnis prägen also vielfach die Praxis des Einstiegsunterrichts in Geschichte, wobei dies den Klassenlehrkräften oft nicht bewusst ist.

30 Projektgruppen


In dieser Hinsicht müssen sich Waldorfschulen und ihre anthroposophischen Grundlagen ganz neu aufstellen – das allerdings, ohne ihre Identität preiszugeben. Davon sind die Mitwirkenden der Initiative Forum Geschichte überzeugt. Die Initiative möchte dazu beitragen, die Waldorfschulen mit ihrem Kultur- und Geschichtsverständnis ins 21. Jahrhundert zu stellen. Konkret beabsichtigt sie, den als notwendig erachteten Erneuerungsprozess des kulturkundlichen Bereichs an den Waldorfschulen durch Diskurs, Grundsatzbeiträge, Handreichungen, Materialangebote, Praxisanregungen und Fortbildungsangebote zu fördern. Sie versteht sich als Fortführung der Lehrplangruppe für Geschichte und ist bei der Pädagogischen Forschungsstelle des Bundes der Freien Waldorfschulen angesiedelt. Seit über zwei Jahren beteiligen sich mehr als 30 Kolleg:innen am Gelingen dieses Reformprojekts – die meisten davon ehrenamtlich, neben ihrer Unterrichtstätigkeit. In 30 Subprojekten werden Theorie und Praxis des Geschichtsunterrichts vor dem Hintergrund der gegenwärtigen kulturellen Herausforderungen, der aktuellen Geschichtswissenschaft und der waldorfpädagogischen Grundideen diskutiert. Die Projektgruppen des Forums Geschichte wollen mit ihren Ausarbeitungen und neuen Konzepten die Waldorfschulen als Orte aufstellen, die an der Gestaltung einer besseren Zukunft mitwirken. Folgerichtig zielen einige Projekte auf den gesellschaftlichen und akademischen Diskurs, andere auf die Verbesserung der Schulpraxis. Die Chance, den konservativen Schatten der Waldorfschulen zu überwinden, fordert eine vernetzte Kommunikation aller Einzelprojekte. Das ist neu, da bislang die einzelnen Beiträge für sich standen. Die Erfahrung zeigte jedoch, dass Wertvolles auf diese Weise oft übersehen und vernachlässigt wurde. Wir brauchen an den Waldorfschulen ein generell verändertes Bewusstsein für die kulturelle Begründung der Waldorfpädagogik, vor allem aber eine verbesserte Praxis. Deshalb ist die Aufgabe der Koordination und Kommunikation der Ergebnisse des Forums Geschichte ein gesondertes Projekt – es fungiert gewissermaßen als Mantelprojekt für die Einzelprojekte. Durch Vernetzung und Kommunikation sollen die Synergien genutzt und in der Schulbewegung eine Auf- und Umbruchsstimmung erzeugt werden. Neben meiner Person sind dafür Albert Schmelzer und mit dem Schwerpunkt Internationale Koordination auch Martyn Rawson verantwortlich. Letzterer pflegt die Kooperation mit den internationalen Gremien der Waldorfschulbewegung und mit den Assoziationen anderer Länder.

Einstiegserzählungen bereits in Podcasts


Hierzulande arbeitet Sibylla Hesse an der letzten Fassung der Auswertung ihrer empirischen Befragung von Waldorfschüler:innen über die Qualität des Geschichtsunterrichts in der Oberstufe. (Siehe auch den Artikel von Sibylla Hesse, Anmerkung der Redaktion). Darüber hinaus gibt es Projektgruppen zum Geschichtsunterricht aller Jahrgangsstufen. Die Handreichungen mit konkreten Vorschlägen zum Geschichtsunterricht in der fünften Klasse sollen dieses Jahr publiziert werden. Beispiele zu den Einstiegserzählungen zur ersten Geschichtsepoche stehen in Podcasts schon jetzt online zur Verfügung und sollen weiter ergänzt werden. Die globale Erweiterung der Geschichte des Mittelalters für die sechste sowie für die elfte Klasse mit den Aspekten kulturelle Begegnungen, Migrationen und Fernbeziehungen in der Zeit zwischen dem Untergang des Römischen Reichs und dem Beginn der Neuzeit wird ebenfalls 2025 im Fokus von Arbeitssitzungen und Fachtagungen stehen. Und auch neue Perspektiven zur Geschichte der frühen Neuzeit in der siebten Klasse mit ihrer globalgeschichtlichen Dimension sollen 2025 präsentiert werden. Gearbeitet wird hier an einem multiperspektivischen Ansatz, der zur Begegnung mit dem Anderen vorbereiten und befähigen soll. Zum Geschichtsunterricht in der achten Klasse gebe ich selbst noch in diesem Jahr ein multiperspektivisch angelegtes Arbeitsbuch für die Schüler:innen unter dem Titel Europa in der einen Welt: Räume, Staaten und Kolonialismus heraus. Das Buch enthält auch Beiträge von Kolleg:innen aus den Waldorfschulen anderer Länder. Die Publikation soll um ein Handbuch für Lehrer:innen ergänzt werden. Zur Klasse zehn wird der Ansatz einer Kulturgeschichte von der Frühzeit bis zur Antike überarbeitet. Herausgestellt wird der Bildungsbeitrag zur Schulung von der Fähigkeit, mit dem Fremden umzugehen (Alteritätskompetenz), der Fähigkeit, Unsicherheit zu ertragen (Ambiguitätstoleranz) und die Gleichzeitigkeit dialogischer Geschichte. Albrecht Hüttig erstellt eine Handreichung zur Thematisierung der Geschichte Chinas für die zwölfte Klasse. In einem gesonderten Projekt wird die Heimatkunde in der vierten Klasse untersucht und neu begründet. Die Bezeichnung Heimatkunde muss dringend ersetzt werden, weil sie völkische Assoziationen und falsche pädagogische Intentionen weckt. Das Anliegen des Projekts ist es, nicht nur diesen Unterricht zeitgemäß zu fassen und dabei weiterhin eine Ortskunde unter Einbeziehung  der regionalen Geschichte und Geographie zu begründen, sondern auch einen der interkulturellen Zusammensetzung der Schüler:innen entsprechenden dialogischen Heimatbegriff aufzubauen. Angefangen von der Ortskunde in der vierten Klasse bis hin zur Geschichte der modernen Zivilisation in der achten Klasse bietet der Geschichtsunterricht außerdem zahlreiche Möglichkeiten, eine systematisch aufgebaute Wirtschaftskunde zu integrieren und so ein fehlendes Bildungselement in den Waldorfunterricht einzufügen.

Online-Plattform ermöglicht ständige Aktualität


Im Oktober des vergangenen Jahres ging bereits eine vollständig überarbeitete Version des gesamten Geschichtslehrplans online. In den neuen Lehrplan flossen schon etliche unserer Arbeitsergebnisse mit ein. Dadurch, dass der Fachlehrplan nicht mehr in einer Printversion erscheint, sind weitere Aktualisierungen jederzeit möglich. Weiter wird in diesem Sinne an der Einrichtung einer redaktionell verantworteten Online-Plattform für Geschichte an Waldorfschulen gearbeitet, die bei der Pädagogischen Forschungsstelle angesiedelt wird und in Verlinkung mit anderen Online-Angeboten im Waldorfschulbereich Lehrplaninhalte, didaktisch-pädagogische Begründungen, konkrete Handreichungen, Materialien und gute Beispiele verfügbar macht. Die Konferenzen der Mitwirkenden lassen darauf hoffen, dass ein vernetztes und diverses Angebot entstehen wird.

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