In Waldorfschulen wird auf diesen natürlichen Forscherdrang mit dem sogenannten phänomenologischen Unterricht in den naturwissenschaftlichen Fächern reagiert. Das heißt, als erstes machen die Schüler:innen eine sinnliche Erfahrung. Sie lösen einen Wasserwirbel aus, sie beobachten, wie Sand auf eine Fläche rieselt, sie lassen Elefantenzahncreme entstehen oder bauen einen Flaschenzug. Erst im nächsten Schritt schließen sich Erklären, Abstraktion und Verstehen an.
Diese Erziehungskunst widmen wir den Fächern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik (MINT). Sie bekommen in Waldorfschulen oft weniger Aufmerksamkeit als die künstlerisch-kreativen Fächer. Weil die Waldorfpädagogik auch die emotionalen, sozialen und praktischen Kompetenzen fördert und die MINT-Fächer erst in den höheren Jahrgangsstufen eingeführt werden, haben die Schüler:innen weniger Unterricht in den naturwissenschaftlichen Fächern als an den staatlichen Schulen. Das muss allerdings nicht heißen, dass aus Waldorfschulen keine begabten Jung-Wissenschaftler:innen hervorkommen. Der mangelnde Leistungsdruck und die Erziehung zum Selbst-Denken schaffen auch für die technischen Fächer Freiräume, die viele Jugendliche an unseren Schulen mit Leidenschaft nutzen. Ein berühmtes Beispiel ist Thomas Südhof. Er machte an der Göttinger Waldorfschule Abitur und erhielt knapp vierzig Jahre später den Nobelpreis für Medizin.
Ann-Katrin Neundorf widmet sich in ihrem Artikel genau der Frage, ob Waldorfschulen für naturwissenschaftlich begabte Kinder der richtige Ort sind. Anne Brockmann hat mit der Chemielehrerin Ivana Chudobová gesprochen. Die wünscht sich für ihren Unterricht mehr Zeit, um dem analytischen Teil ebenso viel Raum geben zu können wie dem phänomenologischen. Heidi Käfer sprach am Goetheanum in Dornach mit dem Physiker Dr. Matthias Rang, dem Leiter der Naturwissenschaftlichen Sektion, über sein Wirken. Die Waldorflehrerin Stephanie Sell hat einen Text über das experimentelle Lernen geschrieben.
Weitere schöne Geschichten und Artikel in diesem Heft: Wie an der Freien Waldorfschule Soest Respekt, Toleranz und Debattieren geübt werden, erzählt Katrin Kühne. Überlegungen zum Morgenspruch von der Waldorfpädagogin Uta Stolz. Die Freie Waldorfschule auf der Alb in Engstingen bietet ein einjähriges Berufspraktikum ab der zehnten Klasse an. Darüber hat Jürgen Beckmerhagen sowohl mit dem Praktikumsbetreuer als auch mit Schüler:innen und Betriebsinhaber:innen gesprochen.
Ich wünsche Ihnen eine schöne Lektüre, die einen Teil Ihrer Neugierde befriedigt!
Ausgabe 07/08/25
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