Mission: Heilende Erziehung

Erziehungskunst | Vorab zu Ihrer Person: Wie erlebten Sie Ihre eigene Kindheit und Schulzeit?

Karin Michael | Glücklich! Ich bin das zweite von fünf Kindern, wuchs auf dem Land auf und war sehr gut behütet. Der Übergang in Kindergarten und Schule war für mich als ängstliches Kind nicht leicht, aber die Waldorfschule, eine geduldige Familie und ein wunderbarer Klassenlehrer haben mir geholfen. An der Waldorfschule gibt es ja viele schöne Gelegenheiten, sich in Rezitation, Konzerten und Theaterstücken zu präsentieren. So konnte ich allmählich die Neigung überwinden, mich dauernd hinter dem Vorhang zu verstecken ...

EK | Was hat Sie dazu gebracht, Medizin, insbesondere anthroposophische Medizin zu studieren?

KM | In der Altenpflege erlebte ich die Grenzen selbstständigen Handelns immer mehr und zugleich wuchs das Interesse an den gesundheitlichen Problemen der alten Menschen. So kam der Entschluss, durch ein Medizinstudium eigenverantwortlich handlungsfähig zu werden. Der Anthroposophie stand ich schon durch mein Elternhaus nahe, sie weckte früh mein Interesse und so müsste man mich eher fragen, ob ich mir Medizin oder überhaupt ein Leben ohne Anthroposophie vorstellen könnte. Und nein, das könnte ich nicht.

EK | Verändert die anthroposophische Perspektive den medizinischen Blick?

KM | Ja, unbedingt! Sie bereichert, vertieft und beschenkt die Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten grandios. Ich erlebe die Anthroposophie und die anthroposophische Menschenkunde als schier unerschöpfliche Quelle für eine erweiterte Diagnostik und Therapie.

EK | ... und inwieweit insbesondere auf das Corona-Geschehen?

KM | In Bezug auf die Corona-Erkrankung konnte ich als Kinderärztin bisher diagnostisch und therapeutisch keine Erfahrungen sammeln. Ich habe nur wenige Telefonberatungen für Familien mit CoViD-19-Erkrankungen gemacht. Keine Kinder und Jugendlichen mussten damit vorstellig oder gar bei uns stationär aufgenommen werden. Mein anthroposophischer Blick hat mich hier nur früh sehr kritisch auf den Umgang mit den Maßnahmen im Kindes- und Jugendalter schauen lassen. Was wir unter gesunden Entwicklungsbedingungen verstehen, wurde und wird leider noch immer mit Füssen getreten!

EK | Was beobachten Sie an Kindern und Jugendlichen in der Klinik, in ihrer Praxis sowie in den Schulen und Kindergärten unter den Bedingungen von Corona?

KM | In meiner Schule durfte ich – wie die Kinder – seit Beginn der Corona-Krise viel zu wenig sein. Das Kennenlernen der neuen Erstklässler in einer Spielstunde wurde in maskierte Einzelaufnahmen verwandelt. Auch wenn die Kinder keine Masken trugen, waren die Situationen viel distanzierter, die Wahrnehmungen deutlich beschränkt. In der Zeit, in der auch Erstklässler Masken trugen, erlebte ich die Kinder völlig überfordert mit dem adäquaten Umgang und sozial-emotional schwer beeinträchtigt. Je länger die Krise andauert, desto mehr erlebe ich auch Jugendliche und junge Erwachsene frustriert, psychisch beeinträchtigt oder gar erkrankt. Eine Einladung ins Leben sollte anders aussehen!

EK | Sie lehren an der Freien Hochschule Stuttgart. Was ist Ihre zentrale Botschaft an die Studierenden?

KM | Wichtig ist mir das Thema »Erziehung als Heilmittel« und dass Lehrer zuerst mit sich selbst achtsam umgehen müssen, damit sie im Sinne des pädagogischen Gesetzes gesundend auf ihre Schützlinge wirken.

EK | Warum ist es aktuell noch notwendig, pädagogisch und medizinisch-therapeutisch auf die Corona-Maßnahmen zu reagieren, da wir doch alle wieder in die Normalität zurückzukehren scheinen.

KM | Die alte Normalität wird es nicht mehr geben. Und wir haben eine enorme psychische Krankheitslast auf die Schultern unserer Kinder gelegt, die zu heilen noch eine medizinisch-pädagogische Mammut-Aufgabe für viele Jahre darstellt.

EK | Es ist für das kommende Jahr die Eröffnung eines Von-Tessin-Zentrums für Gesundheit und Pädagogik an der Freien Hochschule in Stuttgart geplant. Was ist seine Aufgabe?

KM | Die Erde ist, medizinisch gesprochen, in einem kritischen Zustand und wir mit ihr. Es wurde durch Corona noch deutlicher, wie sehr Rudolf Steiner recht hatte, als er vor 100 Jahren prophezeite: »Die Kultur wird immer ungesunder werden, und die Menschen werden immer mehr und mehr aus dem Erziehungsprozess einen Heilungsprozess zu machen haben gegen dasjenige, was in der Umgebung krank macht. Darüber darf man sich keinen Illusionen hingeben.« (GA 294, S. 138)

Der heilsamen Erziehung und der Heilung von Mensch und Umwelt wollen wir uns widmen.

Die Fragen stellte Mathias Maurer