Mit dem Fahrradbus in die Zukunft

Emil Allmenröder

Ich habe kaum realisiert, dass es jetzt wirklich losgeht, als ich auf dem Fahrradbus Platz nehme. Über vier Wochen lang haben wir gebaut, sind gerade so in letzter Minute fertig geworden und jetzt sitzen wir, elf Schüler und zwei Begleiter, schwer bepackt und abfahrbereit auf unseren zwei Fahrradbussen. Die ganze Schulgemeinschaft ist gekommen, um uns zu verabschieden.

»Auf geht’s«, rufe ich und dann setzt sich der Fahrradbus in Bewegung. Und ich bemerke dieses leise Gefühl, eine Mischung aus Aufregung und tiefem Vertrauen, das sich immer einstellt, wenn ich auf Reisen bin.

Ich bin 25 Jahre alt und seit einigen Jahren auf der Suche nach einer Lernkultur, in der ich Lehrer sein will. Dafür habe ich mich, eher fern der konventionellen Bahnen, auf einen selbst gestalteten und für mich stimmigen Weg gemacht. Besonders interessiert mich, wie eine zeitgemäße Oberstufe aussehen kann. Was ist dran für dieses Alter von 14 bis 18 Jahren, wo sich immer wieder zeigt, dass es Klassenräume und die Beschäftigung mit abstrakten Inhalten eher nicht sind? Mir wird immer klarer, wie wichtig es in diesem Alter ist, reale Herausforderungen anzugehen und sich mit Dingen zu beschäftigen, in denen der Sinn und die Folgen des eigenen Tuns unmittelbar sichtbar sind.

Darum hatte ich vor einem Jahr als »freier Lehrling« an der Freien Schule Elztal begonnen, einer kleinen waldorfpädagogisch orientierten Schule in der Nähe von Freiburg, die hier seit einiger Zeit neue Wege geht. Hier machen, wie in den meisten Waldorfschulen üblich, die Schüler erst in der 12. Klasse den Realschulabschluss, wodurch in den Klassen 9-12 der klassische Schulstoff weit in den Hintergrund treten kann. Stattdessen sammeln die Schüler, unter anderem durch viele lange Praktika und Reisen, eine Menge Erfahrungen in der Welt, während die Schule einen Heimathafen für den Austausch und die Reflexion dieser Erfahrungen bildet. Dazu kommen individuelle und gemeinschaftliche Projekte, in welchen die Schüler Selbstorganisation und eigenständiges Lernen lernen, und einzelne Seminarwochen zu den drei Hauptfächern, Mathe, Deutsch und Englisch. Am Ende ist der Realschulabschluss nur ein weiteres Projekt, das die Schüler weitgehend in Eigenregie angehen und den notwendigen Stoff in wenigen Wochen vertiefen. Hier konnte ich, mit viel Begleitung durch meinen »Ausbilder« wertvolle pädagogische Erfahrungen sammeln. Neben der Arbeit an der Schule gehörte zu meiner »Lehrerausbildung«, dass ich gemeinsam mit einer Gruppe Gleichgesinnter pädagogische Wochenendseminare organisiert habe und per Fernstudium Philosophie und Geschichte studiere.

Symbol für eine menschenfreundliche Mobilität

Als mich die Schüler der 10. Klasse im Januar letzten Jahres mit meinem Fahrradbus über den Schulhof fahren sehen, entsteht die Idee, selber einen Fahrradbus zu bauen und damit eine Tour zu machen. Der Fahrradbus ist ein Muskelkraftfahrzeug, dass ich vor einigen Jahren zusammen mit einigen Freunden entwickelt habe. Die einzelnen Module, die im Prinzip wie zwei Liegeräder nebeneinander aufgebaut sind, sind hintereinander koppelbar, sodass ein Bus für bis zu sechs Personen entsteht, in dem sich die Passagiere unterhalten, lesen oder den Ausblick genießen können. Wir hatten den Fahrradbus eigentlich als Symbol für eine zukünftige und menschenfreundliche Mobilität gedacht und waren dann selber erstaunt, wie alltagstauglich er war.

Ich griff die Idee der Schüler begeistert auf. Nun galt es, Lehrer und Eltern zu überzeugen: Wir handelten aus, dass wir die ersten sechs Wochen nach den Sommerferien, die in der 11. Klasse immer für ein großes Klassenprojekt gedacht sind, auf Tour gehen dürfen und dass wir zusätzliche drei Wochen vor den Sommerferien für den Bau bekommen. Auch die Klasse musste sich einig sein: Drei Schüler waren nicht begeistert. Sie hatten zu Hause Vieles, was sie nicht sechs Wochen lang liegen lassen wollten. Sie wollten das Projekt aber der restlichen Klasse ermöglichen und wir fanden die Lösung, dass sie nur die Hälfte der Tour mitfahren würden.

Also legten wir los: Wir akquirierten über 7.000 Euro Spenden, die wir für das Material und den Bau brauchten, klärten die rechtlichen Fragen, überzeugten Philipp, einen Freund, der den Fahrradbus konstruiert hat, uns zu helfen, liehen einen zweiten Fahrradbus aus, richteten eine Werkstatt in der Scheune eines Schülers ein, karrten Werkzeug aus verschiedensten Quellen zusammen und bestellten Material. Den Großteil des Geldes gab uns die Stadt Sonthofen, zusammen mit dem Naturerlebniszentrum Allgäu, die den Fahrradbus nach unserem Projekt übernahmen und damit in Zukunft bei Ausflügen und bei Festen für eine nachhaltige Mobilität und eine fahrradfreundliche Kommune werben wollen.

Millimeterarbeit ist nicht einfach

Vier Wochen vor den Sommerferien begannen wir mit dem Bau. Auch wenn der Fahrradbus ein Low-Tech-Gefährt ist, sind es doch mehrere hundert Metallteile, die pro Modul gefertigt werden müssen. Für jedes dieser Teile hat Philipp auf einer DIN-A4 Seite die Arbeitsschritte aufgezeichnet.

Der Bau erwies sich schon nach kurzer Zeit als zeitaufwendiger als geplant. Trotz der ausführlichen Zeichnungen mussten Philipp und ich alle neuen Arbeitsschritte erklären und auch die Schüler mussten sich an die millimetergenaue Arbeitsweise im Metallbau erst gewöhnen. »Ich habe keine Lust mehr«, stöhnt ein Schüler, als er zum dritten Mal das Loch einen Millimeter daneben gebohrt hatte und setzte sich deprimiert auf einen Stuhl. Zehn Minuten später sah ich ihn dann doch wieder an der Bohrmaschine.

In diesen Tagen lehrte mich das Projekt, was ich theoretisch schon lange wusste: Dass der Prozess Vorrang hat und der Weg wichtiger ist als das Ziel. Wieviel leichter wäre es gewesen, wenn wir uns früher zugestanden hätten, was wir schließlich sowieso einsehen mussten: Dass wir die Abfahrt um eine Woche nach hinten verschieben müssen und dafür mit mehr Ruhe bauen können.

Als wir dann in der zweiten Woche nach den Sommerferien starteten, war unser erstes Wochenziel Karlsruhe. Die Wochenenden verbrachten wir meist in einer Schule, die wir schon vorher angefragt hatten und wo wir Wäsche waschen und uns ausruhen konnten. So ging es von Karlsruhe nach Schwäbisch Gmünd, dann ins Ökodorf Schloss Tempelhof nahe bei Crailsheim und dann durch Bayern, an der Donau entlang. Wir fuhren in Ulm, um Ulm und um Ulm herum und schließlich die Iller hoch bis zu unserem letzten Ziel: Sonthofen.

Unter der Woche schauten wir abends spontan, wo wir unsere Zelte aufschlagen durften. Wir hatten uns vorgenommen, für Übernachtungen kein Geld auszugeben, wollten auch sonst mit einem Minimum an Geld auskommen. Bei fünf Euro pro Person und Tag lag unser Budget und tatsächlich: Mit bedachtem Einkaufen hatten wir trotz Reparaturkosten und der Rückfahrt mit dem Zug noch Geld übrig für einen Döner ab und zu.

Nomadentum und Suche nach dem Neuen

Als es im Oktober kälter wurde, fragten wir auch immer öfter nach einem überdachten Raum, in dem wir unsere Isomatten ausrollen durften und wir erfuhren, wie groß, entgegen aller Gerüchte, die Offenheit und Hilfsbereitschaft der Menschen in diesen Landen ist. In einem Kloster hörten wir abends die Lebensgeschichte eines Bruders und wurden am nächsten Tag zum Frühstück eingeladen. Ein andermal schenkten uns Menschen einen Fahrradschlauch, als wir keinen Ersatzschlauch mehr zur Hand hatten und immer wieder öffneten Pfarrer für uns die Gemeindehäuser. Für mich ist dies eines der wichtigsten Lernfelder: diese Urform der menschlichen Lebensweise, das Nomadentum, zu erfahren.

Das nächste große Lernfeld ist das Leben in der Gruppe. Den ganzen Tag, die ganze Woche sind wir beisammen. Sich auch mal bewusst Zeit alleine nehmen, deutlich kommunizieren, was die eigenen Bedürfnisse sind, sagen, wenn einen etwas stört. All das gilt es zu lernen.

Neben diesen beiden großen und ständigen Lernbereichen beschäftigten wir uns immer wieder gezielt mit den Chancen und Herausforderungen unserer Zeit. »Auf der Suche nach dem Zukünftigen« lautete die Überschrift unserer Tour. Dazu versuchten wir zuallererst ein genaueres Verständnis davon zu entwickeln, was eigentlich ist. Wir beschrieben uns gegenseitig die bestehende Kultur aus der Sicht eines Ureinwohners, der zum ersten Mal in diese Kultur kommt. Ein andermal hielten wir in einem Dorf und alle Schüler zogen aus, um spontan einen Menschen danach zu fragen, was seiner Meinung nach die größten Herausforderungen, aber auch die größten Chancen und Geschenke unserer heutigen Zeit sind.

Als wir nach einer Stunde wieder zusammenkamen und uns über das Gehörte austauschten, hatten einige nur ein paar Minuten geredet und andere die ganze Stunde lang den Worten von bis dahin fremden Menschen gelauscht. Und alle hatten etwas Interessantes erfahren. Im Ökodorf Schloss Tempelhof konnten wir einen Eindruck gewinnen, wie bewusst gestaltetes Leben auf dem Land in Zukunft aussehen könnte. Auch bekamen wir bei einer Führung durch das »Earthship«, ein wunderschönes, energieautarkes Haus, das zum größten Teil aus Erde und Müll gebaut wurde, Einblicke in eine zukunftsfähige Architektur.

Alte Muster haben starke Wirkungen

Die Lernkultur und die Haltung, die ich als Lehrer verkörpern will, habe ich trotzdem noch nicht gefunden. Immer wieder falle ich in Muster zurück, die ich ablegen wollte und schaffe es nicht, meinen eigenen Ansprüchen gerecht zu werden.

Auch in den Unterrichtseinheiten merke ich, wie schwer es ist, die eigene Botschaft rüberzubringen und eine Lernkultur und Atmosphäre zu schaffen, in der ich mich wirklich wohl fühle. Durch das Projekt lerne ich vielleicht vor allem, wie weit der Weg für mich noch ist. »Unzufriedenheit ist die treibende Kraft jedes guten Lehrers« ermutigt mich mein Mentor bei einem unserer Reflexionsgespräche. Doch im Nachhinein kann ich sehen, was die Schüler und ich auch alles gelernt und geschafft haben.

Bei vielen der Schüler konnte ich einige Entwicklungsschritte wahrnehmen und bei unserer Präsentation über das Projekt bekam ich von vielen Lehrern und Eltern gespiegelt, wie verändert die ganze Klasse inzwischen dasteht. »Das intensive Erleben von Zusammenhalt und Gemeinschaft«, sind sich die Schüler beim Fazit unserer Präsentation einig, »war die prägendste Erfahrung während der Tour.«

Zum Autor: Emil Allmenröder hat während seiner Schulzeit an einer staatlichen Schule darauf gewartet, dass das Leben losgeht. Als er nach der Schule mit der Bildungsbewegung »Funkenflug« nach Berlin wanderte, hat er bemerkt, dass er mittendrin steckt und den Mut gefunden, es selber zu gestalten. Er ist seit dem als »Funkenflieger« und freier Wanderstudent unterwegs.

freieschuleelztal.de/fahrradbus

www.Freie-Lehrerausbildung.de