Ausgabe 11/24

Mit E-Klavier im Treppenhaus

Tobias Gräff

An einem sonnigen Wochenende im April machten sich 21 Schüler:innen der Freien Waldorfschule Ravensburg der Klassen 7 bis 10 auf den Weg nach Freiburg. Es sollte ein musikalisches Probenwochenende der besonderen Art werden. Die Vorbereitungen dafür waren sehr aufwändig. Einige Wochen im Voraus bewarben wir unser ungewöhnliches Projekt über private Kontakte, in Alten- und Pflegeheimen, Hospizen, kirchlichen Organisationen, bei der Stadt, in der Lokalpresse und im Radio: «Kennen Sie jemanden in Freiburg, der am Samstag, den 13. April, Geburtstag hat, einsam oder eingeschränkt beweglich ist, einen nahestehenden Menschen verloren hat, sein Lebensende erwartet, Zuspruch oder eine Ermutigung benötigt? Wir, 21 Schüler:innen der Freien Waldorfschule Ravensburg, suchen Menschen, die man mit Liedern oder Instrumentalstücken überraschen und beglücken könnte. Wir singen oder musizieren für diesen Zweck am Postschalter, im Büro, auf dem Wochenmarkt, im Hospiz, im Wohnzimmer, im Ladengeschäft oder an einem anderen Ort. Es kostet nichts. Sollten Sie jemanden kennen, kontaktieren Sie uns.»

Lange hörten wir nichts, keiner meldete sich, sodass wir unser Vorhaben fast abgesagt hätten. Doch drei Tage vorher gingen plötzlich die Anfragen bei uns ein und die Liste füllte sich. Unser Wunsch war in Erfüllung gegangen, jemand hatte uns für einen anderen Menschen beauftragt, wir durften singen und jemanden damit überraschen, denn die Beschenkten sollten nicht wissen, dass wir kommen würden. Wir bekamen also die Adressen und klingelten dann unverhofft an fremden Türen. Frau Pichler wurde zuerst besucht. Ihre zarte Stimme klang zerbrechlich an der Sprechanlage, nachdem wir geklingelt hatten: «Hallo, wer ist denn da?» «Guten Morgen Frau Pichler, wir kommen zu Ihnen, um Ihnen eine kleine Überraschung zu bringen. Würden Sie uns freundlicherweise die Türe öffnen?» Mit dem E-Klavier auf den Schultern und einer Kabeltrommel unter dem Arm stiegen der Chor, der Klavierbegleiter und zwei Lehrkräfte die knarzende Holztreppe in die dritte Etage hinauf. Frau Pichler empfing uns im Morgenrock im Türrahmen und wirkte zunächst äußerst misstrauisch über den unangekündigten Besuch. Wir erklärten ihr, dass uns jemand zu ihr geschickt habe, um ihr eine Freude zu bereiten. Da sie sich selbst in ihrem Leben so viel für andere eingesetzt habe, sei es nun an der Zeit, auch etwas zurückzuschenken. Frau Pichler willigte ein: «Ja, na gut, wenn es denn sein muss, aber bitte nur kurz, da ich mich nicht lange auf den Beinen halten kann!» Und dann sangen wir unser erstes Stück, Enyas Only Time, im Treppenhaus.

In den folgenden sieben Stunden kreuz und quer durch Freiburg sangen wir in Wohnzimmern, Hausfluren, Zimmern von Alten- und Pflegeeinrichtungen für ältere Menschen, aber auch für eine schicksalsgebeutelte, junge Studentin. Auch wenn die Menschen sehr überrascht waren, weggeschickt wurden wir nirgendwo. Ich glaube, was den Menschen das Vertrauen gab, waren die erwartungsfreudigen, freundlichen Gesichter der Schüler:innen.

Wir hatten vorher nicht extra alte Volkslieder geübt. Aber ich hatte neben der herkömmlichen Musikliteratur den Schüler:innen Mendelssohns Engelsterzett Hebe deine Augen auf beigebracht. Damit waren wir für die ältere Generation gut vorbereitet.

Als wir bei unserem ersten Einsatz bei Frau Pichler fertig waren, hatten sich ihre Gesichtszüge verändert. Neugierig blickte sie die Treppe hinab in die jungen Gesichter des Schüler:innenchors. Sie war sehr berührt von der Musik und der Tatsache, dass jemand an sie gedacht hatte. «Wer hat sie zu mir geschickt», fragte sie, nachdem wir noch zwei weitere Lieder für sie gesungen hatten. Wir konnten und durften es ihr nicht verraten. Es blieb ein Geheimnis.

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