Ausgabe 03/25

Mit Sprache verbinden oder individualisieren

Jan Mensebach


Das kleinste gestaltete Element in der Sprachgestaltung sind die Laute. Mit ihnen werden später dann Formen gebildet, von kleinen Einheiten wie den Silben bis hin zu langen epischen Texten. Für die Lautbildung braucht es Formkräfte, die die Muskulatur bewegen. Zunge, Lippen und Kiefer müssen in eine bestimmte Stellung gebracht werden, um einen Laut bilden zu können. Das geschieht in den meisten Fällen automatisch und ist für uns so selbstverständlich, dass wir darüber gar nicht nachdenken.

Die Konsonanten im Deutschen lassen sich in verschiedene Lautgruppen unterteilen, die bestimmten Formkräften folgen und dadurch verschiedene Laut- beziehungsweise Sprechqualitäten hervorrufen. Da gibt es die Gruppe der Verschlusslaute (B, D, G, P, T, K), der Reibelaute (F, S, CH, SCH, Z), der Nasallaute (M, N, NG) und der Fließlaute (L, R). Bei den Verschlusslauten wird der Atemstrom an einer bestimmten Stelle im Mund angehalten und gestaut, um dann regelrecht zu explodieren, bei den Reibelauten wird der Atemstrom durch eine Enge gepresst, wo hingegen er bei den Nasallauten aufgrund eines Verschlusses im Mundraum durch die Nase austritt.

Ist die Artikulation undeutlich, ungeformt, kraftlos, dann haben wir Mühe, unser Gegenüber zu verstehen. Ist sie aber in einzelnen Lauten zu übertrieben oder überformt, dann führt es zu Irritationen. Es braucht also eine gute Balance. Die Art, wie wir sprechen, gibt auch schon einen Einblick, wie wir innerlich und äußerlich «in Form» sind. Gerade Sprachgestalter:innen können aufgrund der Eigenheiten von Sprechenden oft schon gewisse Rückschlüsse auf die Befindlichkeit und Kräfteverhältnisse der Sprechenden ziehen.

Die Silben


Eine Silbe ist entweder betont oder unbetont. Betonte Silben werden auch als Längen oder Hebungen und unbetonte Silben als Kürzen oder Senkungen bezeichnet. Haben wir es mit einem Gedicht zu tun, dem ein Versmaß, ein sogenanntes Metrum, zugrunde liegt, dann wiederholen sich die betonten und unbetonten Silben in einem bestimmten Muster.

Beginnt das Muster mit einer betonten, gefolgt von einer unbetonten Silbe, dann nennen wir das Versmaß Trochäus. Beginnt das Muster mit einer unbetonten, gefolgt von einer betonten Silbe, dann nennen wir das Versmaß Jambus.

Das Metrum hat die Tendenz, uns stark in die Form zu zwingen. Es entsteht ein monotoner, gleichförmiger Sprechtakt. Das Metrum eignet sich hervorragend zum Klatschen oder begleitenden Gehen eines Gedichts, um die Qualitäten des jeweiligen Metrums zu erleben. So hat der Trochäus etwas getragenes, während der Jambus etwas befeuerndes hat. Der Sprachfluss jedoch geht verloren. Man hört keine Wörter oder Sätze mehr, sondern nur die einzelnen Silben. Das bedeutet aber, dass der Inhalt des Gedichts durch das Metrum in den Hintergrund tritt. Viele Schulklassen bleiben beim Rezitieren eines Gedichts auf dieser Stufe stehen und das ist schade, denn man verharrt in der Form.

Damit das Gedicht inhaltlich wieder ganz auftauchen kann, müssen wir uns ein Stück weit von der Form emanzipieren. Die Längen und Kürzen der Silben bleiben erhalten, aber auf einer viel subtileren Ebene. Es fühlt sich eher nach einem Silbenwiegen an als nach einem Taktieren.

Dieses (leiernde) Silbensprechen ist etwas sehr Typisches für die Unterstufe in den Waldorfschulen. Auch beim morgendlichen Begrüßen schallt es einem immer wieder aus Klassen entgegen. Wer kennt es nicht dieses: «Gu-ten Mor-gen lie-ber Herr/liebe Frau da-da-da.»

Es ist für die Unterstufe durchaus auch berechtigt, da der Takt das Gruppengefühl, das Wir-Gefühl stärkt und das ist eine soziale Qualität. Wie gesagt, die Form gibt Halt und Struktur und über den Takt ist es möglich, dass 32 Menschen im Sprechen exakt zusammenfinden, aber es verliert dadurch an jeglicher Individualität und Lebendigkeit. Im Chorsprechen muss meines Erachtens der soziale Aspekt, wenn es darum geht, auf die anderen zu achten, etwas zurückgenommen werden. Es ist die Aufgabe der Chorleitung, das Chaos immer wieder durch Vorgeben von Pausen und Einsätzen zu bündeln und die Gruppe immer wieder zusammenkommen zu lassen. In den einzelnen Phrasen muss aber jede:r so sprechen, wie der Inhalt im eigenen Inneren klingt. Das bedarf allerdings einer intensiven Vorarbeit. Die Bilder müssen natürlich in allen ähnlich vorherrschen und auch in der Raumvorstellung auf denselben Ebenen liegen. Es muss Einigkeit darüber bestehen, ob das, was beschrieben wird, etwa hell oder dunkel, dünn oder dick, schnell oder langsam, gerade oder krumm ist, denn diese Gegensatzpaare bestimmen, wie die Atemführung und das Sprechtempo sein werden. Das ist das Bezaubernde am Chorischen sprechen, dass man dann keinen Einheitsbrei hört, sondern die unterschiedlichsten Stimmnuancen.

Epik, Lyrik und Dramatik
 

Die drei literarischen Gattungen Epik, Lyrik und Dramatik spielen in der Sprachgestaltung eine große Rolle und folgen bestimmten Formelementen. Die Sprachgestaltung bedient sich unterschiedlicher Atemführungen, um episch, lyrisch oder dramatisch zu sprechen. In der Epik, besonders im Märchen, wählt die erzählende Person einen Ton, der sich durch mehr Fülle und Wärme auszeichnet. Diesen Ton finde ich, indem ich mich muskulär an einem Widerstand übe. Das kann geschehen, indem ich beim Sprechen entweder gegen eine Wand drücke oder Körperspannung herstelle, indem ich mit einem Theraband auf Zug gehe. Drücken oder Ziehen erhöhen die muskuläre Spannung. Diese wirkt sich unmittelbar auf die Ausatmung aus. Wird die Atmung, die in die Laute geschickt wird, durch einen Widerstand verlangsamt oder verdichtet, dann wird der Ton voller und sonorer. Besonders wirksam ist dies an den Nasallauten und stimmhaften Reibelauten zu erleben. Je nach Inhalt bedarf es in der  Lyrik feiner Töne, die eine gewisse Leichtigkeit ausstrahlen. Um diese Feinheit hinzubekommen, muss der Atem leicht fließen. Beim Üben ist der Fokus auf die Körperperipherie zu legen, auf die Empfindung an den Lippen. Beim Sprechen kann ich unterstützend mit den Fingerspitzen der einen Hand sanft über die Fingerspitzen der anderen Hand streichen. Das gibt dem Atem sofort den Hinweis, vorsichtiger, sanfter in die Laute zu gehen. Dankbar hierfür sind alle Laute, die mit Hilfe der Lippen gebildet werden, wie P, B, M, aber auch alle stimmhaften Reibelaute.

Ein Mittel, um in der Dramatik Spannung aufzubauen, kann das Erhöhen der Sprechdynamik sein, die die Sprache schärfer oder knapper macht. Dies kann ich gut üben, indem ich meinen Atem in Bewegung bringe, beispielsweise durch schnelles Bewegen der Hände. Die Handflächen zeigen hierbei zueinander, während die Hände gegenläufig schnell bewegt werden, als ob ich mit den Handkanten eine Massage geben würde. Spreche ich jetzt in diesen Bewegungsablauf hinein, kann ich erleben, wie meine Stimme schärfer und das Sprechtempo dynamischer werden. Wir sehen also, dass die Bewegung, die ich körperlich ausführe, eine Auswirkung auf meine Stimme und meine Sprache hat. Die Bewegung erzeugt die notwendige muskuläre Spannung im Körper, die für eine erhöhte Plastizität der Laute genutzt werden kann. Der Atemstrom wird durch die entsprechende Bewegung entweder verdichtet, beschleunigt oder in ein sanftes Fließen gebracht. Wird der Atem verdichtet, klingt die Stimme voll und sonor, wird er beschleunigt, klingt sie schärfer, drängender, dynamischer, wird der Atem in ein sanftes Fließen gebracht, wird die Stimme sanfter, feiner und weicher.

Wie nun ein Text mit einer Klasse einstudiert und vorgetragen wird, das bleibt der Fantasie der Lehrkraft oder der Schüler:innen überlassen. Es gibt verschiedene Formen der Rezitation. Ich kann einzelne Textpassagen chorisch, also von der ganzen Klasse, rezitieren lassen, das erzeugt im besten Fall eine enorm Wucht, oder ich lasse einzelne Passagen durch Kleingruppen oder gar einzelne Schüler:innen vortragen. Das bewirkt, dass die Schüler:innen in ihrer Individualität und Vielfalt viel stärker hervortreten können und erhöht die Aufmerksamkeit nicht nur bei den Schüler:innen, sondern auch bei den Zuhörenden. Das sind aber durchaus noch die eher klassischen Formen des Vortragens.

Wie wirkt zum Beispiel ein Text auf Zuhörende, wenn sie in der Mitte eines Raumes mit geschlossenen Augen am Boden sitzen und die Sprechenden in Kleingruppen außen herumstehen und nun die Sprache aus verschiedenen Richtungen erklingt oder von allen Seiten gleichzeitig? Spannend wird es, hier gänzlich neue Wege und Formen zu finden und mit den Schüler:innen gemeinsam zu experimentieren, um Lust an der Sprache und am Sprechen zu wecken!

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