«Stellt euch vor, der Nikolaisaal in Potsdam hat eine Nachricht von Außerirdischen empfangen – lauter geometrische Formen, die sicher eine musikalische Botschaft sind. Warum sonst hätten sie sich an den Nikolaisaal gewandt?» Mit dieser Erzählung lud Musikpädagogin Luka Born Schulen im Potsdamer Umland ein, interstellare Musik-Botschaften zu formulieren – mit Hilfe einer App, die es ermöglicht, grafische Partituren auf Tablets zu zeichnen. Jede Form repräsentiert ein Instrument – spitze Dreiecke die Violinen, weiche Rechtecke die Celli und fließende Linien die Flöten. Hinter dem Projekt stecken der Wunsch und das Ziel, Kinder und Jugendliche für Orchestermusik zu begeistern. Wie das gelingen kann, darüber grübelten Hauke Berheide, preisgekrönter Komponist, und Michael Dühn, Programmdirektor des Nikolaisaals in Potsdam, im Herbst 2022 nach. Dühn schlug vor, Jugendliche sollten aktiv mit Profi-Orchestern und Musiker:innen interagieren. Sie sollten Musikbotschaften mit einfachen Symbolen formulieren, die Musiker:innen professionell interpretieren können. Berheide hatte die Idee für Partituren mit geometrischen Formen. Er zeichnete ein Kaleidoskop von Farben und Linien für ein avantgardistisches Orchester.
Berheide und Dühn wandten sich an den Klangkünstler Felipe Sanchez Luna, Mitbegründer des Berliner Studios kling klang klong. Sie beauftragten ihn damit, ihre Vision von einer App umzusetzen, die grafische Partituren auf Tablets zu zaubern vermag. Dühn wünschte: «Die geometrischen Figuren müssen auch klingen.» Berheide nahm daraufhin 40 Klangtexturen mit den Brandenburger Symphonikern auf, die Luna in seinen sogenannten Luna-Simulator einbaute. Dieser ermöglicht intuitive, kreative Musikkompositionen. Nutzer:innen können durch das Anpassen und Positionieren verschiedener Formen auf einem Liniengitter einzigartige Klanglandschaften kreieren. Größe und Ausrichtung der Formen steuern Lautstärke und Dauer, die Farbwahl bestimmt den Klang. Der Simulator bietet Dreh- und Löschfunktionen sowie eine Einstellung für die Gesamtdauer der Komposition – eine flexible Plattform für experimentelle Klanggestaltung, die Anfänger:innen wie erfahrenen Musiker:innen spielerischen Zugang zur Musikproduktion eröffnet.
Parallel dazu engagierte Berheide sechs Studierende der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover. Mit ihnen wollte er die grafischen Partituren und die zugehörigen Melodien in klassische Orchesterpartituren überführen.
Susanne Rendle, Klassen- und Musiklehrerin an der Waldorfschule Werder/Havel, und ihre Kollegin Katrin Peters bewarben sich mit ihren sechsten und siebten Klassen. «Meine sechste Klasse führte gerade die Oper Orpheus und Eurydike auf. Da war dieses Projekt eine hervorragende Abwechslung und Ergänzung. Die Arbeit mit normalen Noten wäre mir persönlich leichter gefallen, aber uns reizten die moderne Technik und die Begegnung mit einem professionellen Sinfonieorchester», erinnert sich Rendle.
In einem ersten Workshop mit Initiator:innen und Beteiligten sahen und hörten die Schüler:innen die Botschaft aus dem All und erhielten eine Einweisung in die Bedienung des interaktiven Luna-Simulators. In einem zweiten Workshop komponierten die Schüler:innen Melodien passend zu ihren mit dem Luna-Simulator entworfenen Klangwelten. Die Melodien zeichneten sie mit einfachen Linien. Dabei halfen ihnen die Musiker:innen. Luka Born erinnert sich: «Schon allein ein Fagott zu Gesicht zu bekommen, war für einige eine Offenbarung. Während der Workshops, in denen die Melodien kreiert wurden, herrschte eine spürbar lebendige Atmosphäre. Es war, als ob die kreativen Wellen nur so durch den Raum flogen.» Das Ergebnis der Workshops waren jeweils zwei Partituren – eine für die harmonische Textur und eine zweite für die Melodie.
Jetzt fehlten nur noch die Antworten der Außerirdischen. Dies war wieder Lunas Part. Er fütterte eine KI mit den grafischen Partituren aus seinem Luna-Simulator und den eingespielten Melodien der Musiker:innen. Er gab an, dass es sich um irdische Nachrichten an Außerirdische handeln soll, die auf dem Exoplaneten K2-18b leben, und dass er um Antwort von ihnen bittet.
Berheide und die Musikstudierenden transformierten die grafischen Kompositionen der Schüler:innen und der KI in klassische Orchesterpartituren.
Das Ergebnis waren 13 Botschaften – sieben aus dem All, sechs von Schüler:innen. Sie reichten von einer humorvollen Begrüßung für Aliens bis zu musikalischen Kontinentalvorstellungen, gemischten Nachrichten im Feuilleton-Stil und Darstellungen der vier Jahreszeiten. Die sechste Klasse der Waldorfschule Werder beschrieb die Lage ihrer Schule neben einem Bahnhof und die siebte Klasse das menschliche Dasein von der Geburt bis zum Tod.
Diese Symphonie brachten sie kurz vor den Sommerferien 2023 im Nikolaisaal zur Uraufführung. Ein volles Haus und ein begeistertes Publikum waren der Lohn für die Brandenburger Symphoniker:innen, ihre jugendlichen Co-Komponist:innen und alle übrigen Beteiligten.
Der Nikolaisaal will diese Form der musikalischen und interstellaren Kommunikation weiter ausbauen und in seine Programmplanung für die kommenden Jahre aufnehmen. Ziel ist es, nicht nur Schüler:innen, sondern auch Auszubildende in die Welt der Musik und der Komposition einzuführen – ohne musikalische Vorkenntnisse, dafür mit einer Portion Neugier auf das, was jenseits unserer Atmosphäre liegt.
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