«Muss ich den Morgenspruch mitsprechen», fragte mich ein neuer Schüler in der Unterstufe. «Nein, das musst du nicht. Mir selbst ist er wichtig, aber er ist kein Zwang. Wir schaffen uns zu Beginn einen Raum, der uns alle trägt. Du kannst gern warten.» Beim zweiten Mal sprach er selbstverständlich mit.
Auf einer anthroposophischen Tagung in Kalifornien wurde ich einmal Zeugin eines Gesprächs unter Ehemaligen: « … und als es mir ganz schlecht ging, und ich ganz unten war, fiel mir dieser Spruch wieder ein: Der Sonne liebes Licht … » Und vor etwa zehn Jahren stellten sich in einer Schule im Ruhrgebiet spontan Abiturient:innen vor ihrer mündlichen Prüfung in einen Kreis und sprachen: «Ich schaue in die Welt … », um die Aufregung zu besiegen.
Im Kissenkreis am Boden eng zusammen bis Ostern in der sechsten Klasse, bis zum Beginn des Jugendalters, begann ich den Unterricht mit meiner Klasse. Wir standen dann auf, fassten uns alle an den Händen und warteten auf die Stille und fingen gemeinsam mit «Ich … » an, solange die Innigkeit uns trug. Dieses Tragen hörte irgendwann in der siebten Klasse auf, obwohl der Blick nach außen und nach innen von «in die Welt» und «in die Seele» je nach Epoche ins Bewusstsein gehoben wurde. Wir sprachen unseren Klassenspruch, weil dieser uns trug und vereinte, bis der Morgenspruch, dann in anderen Sprachen, wieder passte.
Ich bereite Lehrer:innen auf die Entfristung durch den Berliner Senat vor und sehe Unterricht in vielen Fächern. Immer wieder höre ich: «… wenn das Wort Gott im Morgenspruch nicht wäre!» So habe ich geholfen, eine Brücke zu bilden, sei es eine innere auf dem Weg zur Haltung, sei es eine äußere, indem ein Wort ersetzt oder ein Teil für die Oberstufe in Gedanken gesprochen wurde. Meine Seele schwingt und ein Geist-getragenes Feld entsteht. Wenn Lehrkräfte am Anfang ihres Berufsweges spüren, dass sie sich nicht zwingen müssen, atmen sie auf. Ist es nicht genau dieses Aufatmen, dass wir begünstigen wollen? Ein Aufatmen in einem Getragen-Sein innerhalb einer Gemeinschaft?
Längst haben sich an unseren Schulen parallele Formen der Morgensprüche entwickelt. Eine Mentee berichtete, im Seminar habe sie gehört, es könne auch jedweder andere Spruch zu Beginn sein, selbst von ihr gewählt. Unmerklich sind die beiden tradierten Morgensprüche zu einem Gradmesser geworden zwischen Überzeugung, Authentizität und Erneuerungsdrang innerhalb unserer Pädagogik. Es gibt noch die «katholische» Variante mit vor der Brust überkreuzten Armen, die den Atem presst. Es gibt den Laisser-faire-Stil, bei dem es allen Lernenden selbst überlassen ist, ob sie auf diese Weise morgens einchecken möchten und mitsprechen. Und es gibt das sang- und klanglose Verschwinden des Morgenspruches in der Oberstufe.
In einer Kultur, in der man nicht mehr ohne Weiteres das Butterbrot teilen kann, wegen des Glutens, der Kohlehydrate, des nicht veganen Belages, wegen der Uhrzeit und wegen des Korns an sich, kann das Teilen eines religiös gefärbten Spruchs keine Selbstverständlichkeit mehr sein. Und: «Der Sonne liebes Licht …» versteht sich nicht mehr von selbst. Was ist «hellet»? Was ist Geistesmacht? Ein Heer voller Helden? Was sind Glieder? Die einer Kette? Benötigt die Wirksamkeit von Bildern ihr sprachliches Verständnis? Die Brücke zwischen meiner eigenen Haltung dem Spruch gegenüber und dem inneren Bild in den Heranwachsenden, das ich nähren möchte, braucht das Gespräch auf allen Ebenen: im Kollegium auf der Suche nach einer gemeinsamen Haltung oder ganz mutig einer gemeinsamen abgewandelten Form und mit den Kindern und Jugendlichen darüber, wie wir am Morgen zusammenkommen wollen. Ein solches Gespräch ist eine Frage des Menschenbildes: betrachte ich Kinder als selbst ermächtigte Wesen mit einer eigenen, wertvollen Sicht in die Welt, die «den Unterschied macht»? Wir können mit der Klasse darüber sprechen, welche Bedeutung dieser Spruch für mich oder die Waldorfschulen auf der Welt hat und von wem er stammt. Wir können spätestens die Jugendlichen in die Mitgestaltung einladen und damit die tragende Säule eines gemeinsamen Geistigen ins Bewusstsein heben.
Etwas am Leben zu erhalten, verlangt von uns Pädagog:innen die fortwährende Bereitschaft zu Veränderungen, zur inneren Bewegung und zum Abtasten der Möglichkeiten und Variationen, um Zugänge für möglichst alle zu schaffen. In der Furcht vor Erstarrung einerseits und Beliebigkeit andrerseits müssen wir uns bewähren.
Ich muss zugeben, dass ich als begeisterte und nimmermüde Morgenspruchsprecherin schon über neue Zeilen in eingängiger Sprache – in der Wahrung des Grundtons – nachgedacht habe.
Ausgabe 07/08/25
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