«Frau Kaliss, geht die Farbe wieder raus? Dürfen wir bürsten?» 14 Schafe gehören zur Schulfarm an der Freien Waldorfschule Schwäbisch Gmünd. Die Wolle ist rosa – oder lachsfarben. Und nein, es handelt sich nicht um eine speziell an Waldorfschulen gehaltene Schafrasse, die die Märchenwolle gleich mitliefert. Grund für manchen rosa Rücken ist der frisch blutrot gestrichene Bauwagen besagter Frau Kaliss. Ihr gehören auch die Schafe, dazu Esel und zwei Hunde. Ein Mädchen zählt auf: «Canela, Paloma, Fleur, Sel, Maya. Ich kenn fünf mit Namen.» Ein anderes liest und sagt: «Ich merke mir die Ohrzahl: 92, 53.» 92? 29? Dem Schaf ist es egal.
Am Hang oberhalb der Waldorfschule gelegen, verteilen sich Häuschen und Hüttchen, ein Gewächshaus, der Unterstand für die Schafe und ein Stall für die Esel. Bis Klasse 4 sind die Schüler:innen der Schule regelmäßig eingebunden in die Arbeit mit den Tieren. Zu tun gibt es genug. Da geht es natürlich ums Füttern und Versorgen, vorrangig aber darum, Aufgaben verlässlich zu verrichten: Halfter anlegen, rausführen und striegeln. Allein oder zu zweit kommen die Kinder aus dem Unterricht, nach einer Stunde ist fliegender Wechsel.
Eigentlich gehen sie nicht gerne aus dem Klassenverband zu irgendwelchen Einzelaktionen. Aufstehen zu müssen und dann vor aller Augen durchs Klassenzimmer zu gehen, fühlt sich nicht gut an. Nicht so, wenn sich nach dem Klopfen am Klassenzimmer eine Schnauze durch den Türspalt schiebt. Hündin Ira holt ab! Da folgt denen, die mitdürfen, manch sehnsüchtiger Blick. Egal, ob es zum Arbeiten im Stall, zum Rechnen oder Schreiben und Lesen geht. Jede Klasse ist an einem Tag in der Woche dran, das ganze Schuljahr lang. Die Absprachen darüber, was für die Kinder gerade dran sein könnte, finden zwischen Klassenlehrer:in und Ulrike Kaliss, manchmal auch gemeinsam mit den Eltern statt. Und das bedeutet nicht immer nur Vergnügen für die Kinder, sondern fordert auch, wenn zum Beispiel endlich die Sechserreihe gelernt oder die Addition vorangetrieben werden soll. Ira kann mit einem großen roten Schaumstoffwürfel würfeln. «Darauf wartet sie schon den ganzen Morgen. Rechnen müsst ihr, das kann sie nicht», ist die Ansage. Die Erstklässler:innen schreiben die gewürfelten Zahlen an die Tafel, die neben den Strohballen an der Stallwand lehnt. Schöne Dreien und Sechsen. «Der Hund ist die Brücke», so Ulrike Kaliss, die von sich sagt, schon immer mit Tieren vertraut gewesen zu sein. Das Verhältnis zum Hund ist wohl das engste. Sie spricht von blinder Zusammenarbeit, die ohne Worte möglich ist.
Ira ist, genau wie ihr Frauchen, immer da. Sie ist kein Besuchshund, der ab und zu vorbeikommt. Für die fünfjährige Ira ist es Arbeit. Mittags braucht sie ein Schläfchen im Auto. Neben der Aufgabe, Zahlen und Buchstaben zu würfeln, wird sie auch an der Leine geführt. Das bedeutet für die Kinder, sich innerlich aufzurichten oder auch, ein gefasstes Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Darüber hinaus bekommt Ira, wie auch die anderen Tiere, alles Mögliche erzählt. Und es darf ihr vorgelesen werden. Das liebt sie. Dem lockigen Hundekopf im Schoß ist es egal, ob alle Worte ganz stimmen und auch egal, wie lange es braucht, die Buchstaben zu einem sinnvollen Wort zusammen zu schleifen. Ira ist einfach da. Will nichts ändern oder verbessern, treibt nicht an. Sie hört zu. Da können sich Blockaden lösen. Da kann Zutrauen wachsen.
Die Lehrerin der zweiten Klasse, Leonie Königer, ist begeistert von dieser Ergänzung des Schulalltags, die von der Schule mit einem halben Deputat finanziert wird. Sie spricht von Bereicherung auf allen Ebenen des Lernens. Die Kinder lernen, Grenzen zu spüren, die eigenen und die der anderen, weil die Tiere so sind, wie sie sind. Sie kommen in sinnhaftes Tun. Zum Teil ist es harte Arbeit, die ansteht. Im Winter muss das warme Wasser aus dem Gewächshaus hochgeschleppt werden. Das macht nicht immer Spaß. Aber niemand murrt. Eimer um Eimer ist nötig, bis die Tröge voll sind und die Tiere vor dem dampfenden Nass stehen. Vorwiegend Jungs, so beobachtet Ulrike Kaliss, kommen mit viel Energie in die Schule, die beim Lernen im Klassenzimmer oft nicht gut abgearbeitet werden kann. Bei den Tieren kann diese Kraft zum Einsatz kommen. Da passt, was sonst nicht passt oder gar stört. Vielmehr ist das, was im Unterricht oft als zu viel empfunden wird, gefragt.
Großtiere wie die Esel bieten die Chance, in Körperlichkeit zu kommen. Da wird zu den Mistgabeln gegriffen. Da werden auch schon mal 30 Heuballen am Morgen geschleppt. Unterbrochen nur von kurzen Streicheleinheiten für die Hündin Ira. «Am Ende der Zeit gehen sie zufrieden», sagt Kaliss. «Und kommen zentrierter und geerdeter zurück», ergänzt die Klassenlehrerin. In den Fluss des Unterrichts findet es sich leicht zurück. Mit dem Bewusstsein, etwas geschafft und bewirkt zu haben.
An manchen Nachmittagen findet eine Tier-AG statt. Diese hat seit Jahren Zulauf. Bis zu 15 Kinder scharen sich um die Schafe, striegeln, besprechen, was ihnen gerade durch den Kopf geht, schmiegen sich an die weichen Körper. Finger greifen unwillkürlich zwischen die schwere Wolle des verstruppten Winterfells, befreien es von Erdklümpchen und Heufäden. «Schau mal, wie seidig», heißt es am Schluss, wenn sich viele Kinderhände an einem geduldigen Schaf zu schaffen gemacht haben. Wenn es den Schafen nicht mehr passt, gehen sie einfach weg.
Gretli ist auch weg. Vor ein paar Tagen erst musste sie eingeschläfert werden. «Aber Gretli war auch alt», sagen die Kinder. Was bleibt, sind Felle, die auf Bänken und Steinen liegen. Als Ganzes geschoren und auf einer Seite gefilzt, ergeben sie warme Sitzgelegenheiten. Die Kinder können sie unterscheiden. «Ich sitz auf Gretli», sagt eines. Das kann Trost bedeuten und Verarbeitung auf sanfte Art und bindet die Kinder ein in die Kreisläufe von Leben und Tod.
Alt werden dürfen die Tiere an diesem besonderen Ort, den Kaliss mit ihnen schafft. Sie ist gleichzeitig Ruhepol und die Klammer, die alles zusammenhält und so einen weiten Raum öffnet, in dem Erfahrung und Entwicklung stattfinden können. Allein ihr Dasein, ihr zurückhaltendes Wirken in großer Klarheit schafft eine Atmosphäre des Zulassens und wirkt wohltuend und förderlich. Ein Selbstverständnis schwingt über allem. Dabei ist sie vor allem authentisch und offensichtlich in ihrem Element zwischen Kindern und Tieren in der Natur. «Wer will in den Stall?» «Die Esel haben Frühlingsgefühle», erzählen die Kinder. «Vorhin war Paul bei Sophie drauf.» Da gilt es, auf die eigenen Füße zu achten, dass sie nicht unter einen stampfenden Eselhuf geraten.
Alle wollen in den Stall. Ein Kind legt sich mit ausgebreiteten Armen auf Toni. Das ist der kleinste Esel, 21 Jahre alt, «eine Sie!», sagen die Kinder. Ein anderes Kind schmiegt sich an den Kopf mit den langen Ohren. Die größeren Esel sind von den kleineren getrennt. «Die waren dränglerisch wegen der Frühlingsgefühle, weil dann zeigen die, wer stärker ist.» Viele Hände streicheln, mit Schmetterlingsringen bestückte Finger klopfen den Staub aus dem Fell: «Den kann man nicht rausputzen», klären sie auf, erzählen von ihrem Wissen und ihren Beobachtungen: «Sophie ist 29, die Älteste, das sieht man daran, dass ihr Fell schon ganz stachelig ist. Osti ist erst 23 oder auch 22 und hat eher lockiges Fell und Pauline hat überhaupt mehr Fell, sie ist 21.» Viele Kinder. Viele Esel. Manchmal ist Stampfen zu hören. Schnell, kräftig, laut. «Wenn sie losspringen, einfach auf die Seite gehen», klingt der erfahrene Rat einer Achtjährigen an die mit Eseln nicht so Vertraute. Kaliss mittendrin. Sie strahlt Sicherheit aus. «Ich muss nur einrahmen und innerlich begleiten», bringt sie ihr Tun auf den Punkt.
Was schlicht klingt, bedeutet Arbeit. Beziehungsarbeit vor allem. Sie beschreibt ein Beziehungsdreieck – zwischen sich selbst, den Kindern und den Tieren, in dem die Verbindungen eng sein müssen. Vor allem ihre zu den Tieren, mit denen sie genauso viel Zeit wie mit den Kindern verbringt. «Anders ginge es nicht», sagt sie.
Zu viel zu wollen, vertreibt die Tiere. Vorführen, für besonders schöne Fotos, lassen sie sich nicht. Da ziehen sie sich zurück. Je stiller man sich ihnen nähert, je langsamer und absichtsloser vielleicht auch, desto eher kommen sie, diese sanften Tiere. Sie sind ihr zugeflogen. Irgendwann hatte ein älterer Herr Schafe übrig und einen Stall zu vergeben. Sie hat zugegriffen. «Dann wurden es immer mehr», sagt sie und lacht. Im Frühling kommen zwei Lämmer dazu.
Toni war auch übrig. Anfangs waren die Esel Leihgabe. Dann hat sich die gelernte Erzieherin und Fachkraft für tiergestützte Pädagogik Kaliss in die entspannten Gesellen verguckt. Ziegen wären ihr zu forsch, Pferde zu nervös für diese Arbeit. Sie ist der Meinung, dass man die Tiere hat, die zu einem passen. Angefangen hat alles mit zwei Kühen. Vor über zwölf Jahren. Der Gartenbaulehrer an der Gmünder Waldorfschule hatte sie damals geschenkt bekommen. Das hat den Grundstein für die Gründung der Schulfarm gelegt. Kühe gibt es nicht mehr. «Man müsste sie kalben lassen für ein gesundes Leben», so Kaliss, «und das wäre eher der Weg zum Bauernhof, den ich nicht will.» Man merkt, dass sie weiß, wovon sie spricht und nicht nur das. Sie verkörpert das Ganze. Es ist ihr Leben, gewinnt man den Eindruck, das mit den Tieren und den Kindern. Es wirkt anstrengungslos. Die Hingabe von Kaliss hat eine Tiefe, die verhindert, dass das Projekt ein Streichelzoo ist. Ihre Arbeit beginnt morgens um sieben und endet gegen Abend. Daher scheint diese Frage schlüssig: «Warum wohnst du eigentlich nicht dort?», fragt ein Kind und zeigt auf den neuen Bauwagen oberhalb vom Eselstall, der für die rosafarbenen Schafrücken verantwortlich ist.
Ausgabe 06/25
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