Ausgabe 10/23

Natur – Gemeinschaft – Sinn

Tomáš Zdražil

Die Gesundheit ist für uns alle ein essenzielles Gut. Leider ist sie gerade in der Kindheit und Jugendzeit keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Das erfahren wir spätestens nach der Coronazeit in der eigenen Umgebung wie auch aus den Medien regelmäßig. Die Gesundheitskrise scheint ein Bestandteil der aktuellen zivilisatorischen Krise zu sein. Zu diesem Schluss kommen auch zwei führende deutsche Soziologen, Andreas Reckwitz und Hartmut Rosa, in ihrem Buch Die Krise der Spätmoderne, in dem sie die Gesundheits- oder die Psychokrise des Individuums neben der gesellschaftlichen Demokratie- und Wirtschaftskrise und der planetarischen Umweltkrise analysieren.
Die letzten Jahre haben deutlich bestätigt, dass die Schule nicht nur ein Lern-, Erfahrungs- und Gemeinschaftsraum ist, sondern zugleich auch ein Schutz- und Gesundheitsraum. Deshalb ist die schulische Bildung für die psychische und für die körperliche Gesundheit der Kinder und der Jugendlichen ausschlaggebend.

Naturnähe

Die Naturnähe ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Wo es ausgelebt werden kann, da entsteht Gesundheit. Naturentfremdung macht uns dagegen krank. In manchen Unterrichten ist die Natur ein wichtiges und schönes Thema. In den Märchen kommen Bäume oder Tiere vor, in der Biologie geht es von der Menschen- und Tierkunde in der vierten Klasse bis hin zur Mineralogie einerseits und der Physiologie und Anatomie des Menschen andererseits in der siebten und achten Klasse. Aber es gibt auch den anderen Teil, der vielleicht sogar viel wirksamer ist, nämlich überall dort, wo wir direkt Erfahrungen mit der Natur machen: im Wald, auf einem Hof oder im Schulgarten.
Immer mehr Pädagog:innen kommen zu der Überzeugung, dass mindestens ein Teil der Schulzeit nicht im Schulgebäude, sondern draußen verbracht werden muss: im Sonnenlicht, an der frischen Luft, bei der praktischen Arbeit, immer in Bewegung. Es gibt zunehmend Schul- und Kindergarteninitiativen, die die kindlichen Lernprozesse in einen landwirtschaftlichen oder praktischen Zusammenhang integrieren und einbetten. Ebenfalls wichtig ist die Ernährung: Man isst zusammen und feiert Feste, bei denen gemeinsam gegessen wird. Man veranstaltet Klassenfahrten, die auch als Kochkurse durchgeführt werden können, und hat eine Schulküche. Verarbeitet die Schulküche Produkte aus dem Schulgarten? Ist sie offen für die Mitarbeit von Schüler:innen? Bietet man einen Kochunterricht mit einer Lehrküche in der Schule an? Über unsere eigene Naturnähe oder Naturentfremdung entscheidet auch die Art und Weise, wie wir uns ernähren. Ohne unseren gesunden Lebenswandel kann die Natur nicht gesund werden und ohne die Gesundheit der Natur können wir selbst nicht gesunden.

Gemeinschaftserlebnisse

Die Harvard Study of Adult Development, eine der umfassendsten Längsschnittstudien überhaupt, geht der Frage nach, was im Leben eines Menschen darüber entscheidet, ob er gesund und glücklich ist. Dafür wurden die Daten von 724 Männern über 75 Jahre lang erhoben und analysiert. Das wichtigste Ergebnis der Studie ist: Glück und Gesundheit sind nicht Folgen von Reichtum und Vermögen, auch nicht von Prestige und Berühmtheit und auch nicht von Leistungsfähigkeit und Arbeitseinsatz. Es ist die Qualität unserer sozialen Beziehungen – zu Freund:innen, zu Familienangehörigen, innerhalb von Gemeinschaften.
Die Forscher:innen konnten bereits in der Lebensmitte der Befragten voraussagen, wer ein langes und gesundes Leben führen würde: Die Männer, die im Alter von 50 Jahren am zufriedensten mit ihren Beziehungen waren, waren die gesündesten im Alter von 80! Über die Qualität der sozialen Beziehungen im Erwachsenenleben entscheiden maßgeblich die sozialen Erfahrungen in der Kindheit und in der Jugendzeit mit. Positive soziale Kontakte machen glücklich, halten gesund, erhöhen die Lebensqualität und verlängern das Leben. Sie wirken stressabbauend, beruhigen die Physiologie und gleichen Stimmungsschwankungen aus. Sie verringern das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Depressionen und Demenz. Negative soziale Erfahrungen, Konflikte, Isolation und Einsamkeit wirken dagegen toxisch.
Betreuen, Erziehen, Lernen und Lehren sind im Gegensatz zu vielen anderen Arbeitsbereichen vollständig in zwischenmenschliche Beziehungsverhältnisse eingebettet. Äußere Strukturen und Formen werden von initiativ zusammenarbeitenden Menschen mit Leben erfüllt. Die menschliche Verbindung der Eltern mit der Schule, in der sie sich ehrenamtlich auf allen Ebenen engagieren, ist an Schulen in freier Trägerschaft besonders intensiv. Von der Mitarbeit in den Gremien der Schule bis zum gemeinsamen Feiern der Jahresfeste – überall sind Eltern am Schulleben beteiligt. Dadurch entsteht ein besonderes soziales Klima für die Schüler:innen. An Waldorfschulen verschiebt sich die sonst frühe Spezialisierung der Lehrkräfte auf den Stoff der Fächer in Richtung einer intensiven menschlichen Verbindung und Einstellung auf eine Klassengemeinschaft, mit denen über Jahre intensiv das Lernen in einem Lebenszusammenhang geschieht. Das ist die Rolle der Klassenlehrer:innen.

Sinnhaftigkeit erleben

Das «allermenschlichste der menschlichen Bedürfnisse» – so Viktor Frankl – ist das Bedürfnis nach Sinn im Leben, die Sinnsuche. Für Frankl haben Sinnerlebnisse, die ein Ahnen oder Erspüren oder sogar ein Wissen der Lebensaufgabe anregen, «einen eminent psychotherapeutischen und psychohygienischen Wert». Wie wird unser Unterricht sinnstiftend?
Einerseits kann man Sinnstiftungen durch Naturerlebnisse und positive soziale Beziehungen erfahren. Andererseits spielt der durch Schüler:innen erlebte Zusammenhang ihres Lernens und Arbeitens mit den Bedürfnissen und Herausforderungen der Umwelt eine wichtige Rolle. Bei jüngeren Schüler:innen geht es um die Aktivierung der Sinne und einen direkt praktizierten Zusammenhang mit der Welt durch das Spielen im Freien, Bewegung und freudiges Schaffen. Brisant stellt sich die Sinnfrage im Jugendalter und sie hängt unmittelbar mit der aktuell oft diagnostizierten Perspektivlosigkeit, Antriebslosigkeit, Erschöpfung, und Depression bei Jugendlichen zusammen.
Das Erlebnis ist problematisch: Ich schreibe einen Deutschaufsatz oder eine Mathearbeit nicht für Lehrer:in, Mitschüler:in oder andere, sondern nur für mich. Man lernt auf diese Weise nur für sich und dadurch erschließt sich nicht unmittelbar die Sinnhaftigkeit und Wertschätzung des eigenen Tuns und die Verantwortung für andere oder der eigenen Lebensaufgabe.
Die Jugend braucht in jedem Oberstufenunterricht Momente, die begeistern, die Freude und Hoffnung vermitteln. Gelingt es, dass man neue Fächer schafft, in denen Zusammenhänge multiperspektivisch und interdisziplinär, durch pädagogische Teams angeleitet, entstehen? Insbesondere Fächer wie Globalisierung, Nachhaltigkeit oder Gesundheit von Mensch und Erde, die verschiedene Expertisen und Disziplinen vereinigen, könnten diese Maxime erfüllen. Ebenfalls Projekte, bei denen die Schüler:innen Verantwortung übernehmen, nicht als Pflicht oder aufgezwungen, sondern frei gewählt.

Dreifache Beziehungsfähigkeit

Die gegenwärtige Menschheit ist im globalen Maßstab mit drei großen gesundheitlichen Herausforderungen konfrontiert: mit der Naturentfremdung, mit Einsamkeit und Sinnverlust. Diese drei Herausforderungen hängen mit der Dreiheit der menschlichen Konstitution – Körper, Seele, Geist – zusammen und den damit verbundenen, entweder erfüllten oder vernachlässigten, menschlichen Bedürfnissen. Die Erfüllung dieser Bedürfnisse ist zugleich wie Nahrung für den Menschen, nicht nur körperlich, sondern auch seelisch und geistig. Eine extreme Krankheitslast entsteht durch die Missachtung dieser Bedürfnisse und die Gesundheitskosten dafür sind kaum bezifferbar. Zugleich besteht das Leben des Menschen im Pflegen der grundlegenden drei Beziehungen: zur Natur und ihren Wesen, zur menschlichen Umwelt und der Gemeinschaft und zum höheren Ganzen, dem Sinn. Natur, Gemeinschaft und Sinn sind die drei grundlegenden Bedürfnisse des modernen Menschen, die nicht ausreichend gestillt werden. So wird eine gesundheitliche Problematik zugleich zu einer großen pädagogischen Herausforderung. Die Schulen können helfen, die dreifache gesundheitliche Not der globalen Menschheit zu lösen.

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