Ausgabe 07/08/25

Naturwissenschaft verstehen, um Weltbürger:in zu sein

Anne Brockmann


Es ist ein warmer Julitag und eine kleine Schüler:innengruppe aus Tübingen watet bedächtig durch ein Flussbett. Die Jugendlichen sind in Gummistiefeln unterwegs und manchmal schwappt ein bisschen Wasser gegen die olivfarbenen Anglerhosen und schmatzt. In den Händen halten sie Kescher mit großen, feinmaschigen Netzen. Die Schüler:innen wollen Proben finden, die sie mitnehmen können. Kleinste Tiere, Pflanzen und Gesteine suchen sie. Ihre Mission: Die Ökologie zweier Fließgewässer aus unterschiedlichen Einzugsgebieten miteinander vergleichen. Das Ganze spielt sich im Umland der Universitätsstadt Göttingen ab. Dort befindet sich auf dem Gelände der Georg-August-Universität das XLAB, eines der größten Labore für Schüler:innen in Deutschland. Das XLAB ist speziell für die MINT-Fächer Physik, Chemie, Biologie und Informatik ausgelegt und wurde mehrfach als außerschulischer Lernort ausgezeichnet. Die Tübinger Freie Waldorfschule unternimmt mit ihren Elftklässler:innen schon seit 2014 regelmäßig Exkursionen dorthin. Eine ganze Woche lang können sich die Schüler:innen dort tageweise in unterschiedlichen Kursen in Experimente, Arbeit und Forschung vertiefen. Die Schüler:innen sollen vor allem erleben, dass Naturwissenschaft nicht trocken ist, sondern richtig Spaß machen kann. Dafür sorgen in erster Linie vielfältige Experimente. Neben dem Keschern im Fluss und dem anschließenden Mikroskopieren bedeutete das etwa für die Elftklässler:innen aus Tübingen konkret, Schweineköpfe zu sezieren, Strom für den Betrieb eines Motors zu erzeugen und feinste radioaktive Strahlungen zu messen. «Die Geräte im Labor sind alle sehr hochwertig und dementsprechend teuer. Allein das geschenkte Vertrauen, dass sie damit umgehen dürfen und die Geräte sachgemäß behandeln werden, hat die Schüler:innen stolz gemacht und angespornt», berichtet Simon Domeyer.

Für Science-Nerds und Unentschlossene
 

Domeyer hat die XLAB-Exkursion von Anfang an für die Schule begleitet. Als Lehrer für Biologie, Chemie und Geografie ist er bereits seit 1989 an der Schule. Wie viele Waldorflehrer:innen, die eigentlich schon in Rente sind, unterrichtet auch Domeyer noch immer gerne die Oberstufenklassen 9 bis 13. «Der Nachwuchs an jüngeren Lehrkräften fehlt an unserer Schule und mir macht es nach wie vor Freude», sagt er knapp. Die Schüler:innen würden von seinem Alter nichts wissen, dafür aber, dass er für sein Leben gern Motorrad fährt. Das Wesentliche sei damit geklärt, scherzt Domeyer. Insgesamt vier Mal hat er Exkursionen nach Göttingen organisiert und begleitet. Inzwischen macht das sein jüngerer Kollege Anton Gauder. Er ist 2018 mit demselben Fächerkanon wie sein Kollege Simon Domeyer an die Schule nach Tübingen gekommen. Dass die Naturwissenschaften in der elften Jahrgangsstufe mit einer einwöchigen Exkursion einen besonderen Raum einnehmen dürfen, hat ihn von Anfang an begeistert. «Unsere ganze Welt ist naturwissenschaftlich geprägt und ich glaube, um ein mündiger Bürger, um ein aktiver Part der Gesellschaft zu sein, ist es unerlässlich, die Dinge um uns herum zu verstehen. Deshalb gehen Naturwissenschaften uns alle an», sagt Gauder. So ähnlich formulierten es auch Exkursionsteilnehmer:innen aus dem letzten Jahr in ihrem Erfahrungsbericht. Sowohl die «eingefleischten Science-Nerds» als auch die «Unentschlossenen», die dabei waren, haben von der Reise profitiert.

Selbstständig lernen und wissenschaftlich arbeiten
 

Ein Muss war die Fahrt nach Göttingen nie. In Tübingen können alle Elftklässler:innen für zwei besondere Wochen gegen Ende des Schuljahres ein Vertiefungsfach wählen. «Dabei geht es darum, sie ins selbstständige Lernen einzuführen. Sie sollen eine Idee davon bekommen, was es heißt, wissenschaftlich zu arbeiten. Die MINT-Fächer und die Fahrt ins XLAB sind nur ein möglicher Baustein davon», erklärt Domeyer. Es sei genauso möglich, das gewählte Fach vor Ort zu vertiefen und Ausflüge in die heimische Umgebung zu unternehmen. Im vergangenen Jahr konnten sich die Schüler:innen zwischen den Naturwissenschaften und Geschichte entscheiden. «Tatsächlich gab es sogar mehr Anmeldungen für die MINT-Fächer und die Fahrt nach Göttingen als wir Plätze hatten», berichtet Gauder. Umso mehr bedauern er und Kollege Domeyer es, dass die Fahrt in diesem Jahr ausgesetzt wird. Da sind zum einen die finanziellen Ressourcen, die nicht in allen Elternhäusern gleichermaßen vorhanden sind. Zum anderen ist es ein Mangel an Zeit. «Jede besondere Aktion, in diesem Fall eine ganze Woche, die ausschließlich den MINT-Fächern gilt, verbraucht die zeitlichen Ressourcen eines anderen Faches. Was wir uns nehmen, schneiden wir also woanders ab. Da entsteht natürlich immer ein Problem», erläutert Gauder. Aber so gut er diese Krux auch verstehen kann: Im nächsten Jahr möchte er auf jeden Fall wieder eine Exkursion ins XLAB anbieten. Das XLAB vermittelt den Schüler:innen einen Eindruck davon, wie heute in den Naturwissenschaften gearbeitet wird. Wie Erkenntnisse entstehen, erleben sie bei der planvollen Durchführung von Experimenten, die funktionieren, in Laboren mit forschungsnaher Ausstattung und unter fachkundiger Betreuung. Und auch die Lehrkräfte können sich weiterbilden und einen Einblick in die Forschungstätigkeit eines Instituts des Göttinger Campus erhalten. Ideen, wie die Finanzierung im kommenden Jahr gelingen kann, hat Gauder schon ...

Softskills statt Einzelheiten
 

Gauder war selbst Waldorfschüler und erinnert sich, dass er am Anfang seines Studiums mehr Arbeit als seine Kommiliton:innen investieren musste, um mithalten zu können. «Auf der anderen Seite habe ich gemerkt, dass ich die Fähigkeit entwickelt hatte, mir Inhalte schnell und gut anzueignen», erinnert er. Auch sein Kollege Domyer ist überzeugt, dass es letztlich eher die sogenannten Softskills und nicht einzelne Inhalte sind, die Schüler:innen fit für die Zukunft machen: «Dass wir auf Dinge zugehen und sie uns zu eigen machen können, im Umgang Kreativität und Flexibilität zeigen und andere Perspektiven einnehmen können – ich glaube, darauf kommt es an.» Schließlich gäbe es kaum mehr Fragen, die mit «richtig» oder «falsch» beantwortet werden könnten, sondern es gelte immer mehr, zu schauen, welche Aspekte zu dieser Frage gibt es denn noch, die berücksichtigt werden wollen. Gauder ergänzt: «In nicht allzu ferner Zukunft werden wir zehn Milliarden Menschen auf der Erde sein. Das stellt uns vor große Fragen, wo genaues Hinschauen und Ideenreichtum helfen werden.» Gauder denkt dabei zum Beispiel an die Entdeckung, dass aus einer einzelnen Eichel auch zwei Eichenbäume wachsen können. Darauf kam die Forstwissenschaftlerin Katja Skibbe, als sie dieses Phänomen zufällig beobachtete. Daraufhin teilte sie weitere Eicheln in zwei Hälften und beobachtete, dass daraus jeweils zwei gesunde und kräftige Bäume entstehen können. So kann bei knappem Saatgut die Anzahl von hochwertigen Setzlingen ganz einfach verdoppelt werden. Die Wissenschaftlerin hat also durch eine feine Beobachtungsgabe etwas Ungewöhnliches wahrgenommen, das Phänomen hinterfragt und den Mut gehabt, es weiterzuverfolgen. Sie hat also Neugier und Forschungsgeist bewiesen und genau das wünschen sich die beiden MINT-Lehrkräfte Domeyer und Gauder auch für ihre Schüler:innen.

Kommentare

Es sind noch keine Kommentare vorhanden.

Kommentar hinzufügen

0 / 2000

Vielen Dank für Ihren Kommentar. Dieser wird nach Prüfung durch die Administrator:innen freigeschaltet.