Ausgabe 11/24

Nicht bagatellisieren und nicht vertuschen

Angelika Lonnemann


Es kann jederzeit an jeder Waldorfschule passieren: Es klingelt und jemand steht vor der Tür, dem vor Jahren an dieser Schule Gewalt angetan wurde – sexuell, körperlich oder psychisch. Denn dass sich Opfer von Missbrauch melden, womöglich auch erst Jahrzehnte nach entsprechenden Vorfällen, geschieht nicht nur in Sportvereinen, bei den Pfadfindern oder in der Kirche – auch an einigen Waldorfschulen ist dies bereits passiert. Der BdFWS möchte, dass sich die Schulen in Deutschland mit dem Thema Aufarbeitung beschäftigen.

Vor drei Jahren fällte die Mitgliederversammlung des BdFWS die Entscheidung, dass jede Waldorfschule in Deutschland ein Schutzkonzept erarbeiten müsse. Dazu wurden Sanktionen bis hin zur Aberkennung des Status´ einer Waldorfschule verabschiedet. Inzwischen haben alle 257 Schulen ein Schutzkonzept vorgelegt. Im Vorstand des BdFWS war Eva Wörner, Vorstandsmitglied seit 2019, federführend mit diesem Thema betraut. Im Rahmen dieser Beschäftigung befasste sich Wörner auch mit Vorfällen an deutschen Schulen, die Jahre oder Jahrzehnte zurücklagen. «Auf einer Veranstaltung lernte ich einmal eine Betroffene kennen», so Wörner. «Sie war immer noch schwer verwundet und forderte vehement, dass der Staat freie Schulen nicht mehr finanzieren dürfe. Eine andere Betroffene berichtete mir von ihrem Fall und sagte, sie freue sich, dass wir uns diesem Thema annehmen und Verantwortung übernähmen».

Schulen, an die sich Betroffene wenden, müssen schwere Verwundungen, die die ehemaligen Schüler:innen oder Mitarbeitende erlitten haben, aufarbeiten. Das heißt, sie müssen die Betroffenen anhören, sie sollten externe Expert:innen hinzuziehen, die Erfahrungen damit haben, sie sollten sich darauf gefasst machen, dass die Betroffenen weitere Unterstützung fordern können. «Erfahrungen aus Krisensituationen an Schulen sowie Gespräche mit Betroffenen haben gezeigt, dass klare Prozesse zur Aufarbeitung fehlten», berichtet Wörner. Betroffene wüssten oft nicht, an wen sie sich wenden können, und erlebten häufig, dass ihre Erfahrungen bagatellisiert würden. «Die Scham, die Betroffene empfinden, erschwert es ihnen zusätzlich, sich zu melden und Hilfe zu suchen», so Wörner.

Im Juli ist das Gesetz zur Stärkung der Strukturen gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen in Kraft getreten. Es beinhaltet vor allem die dauerhafte Einrichtung wirksamer bundesweiter Strukturen zum besseren Schutz, zur Prävention und zur Aufarbeitung sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Deutschland. Dazu sagte die unabhängige Bundesbeauftragte gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen Kerstin Claus: «Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf ein Aufwachsen ohne sexualisierte Gewalt. Politik, Eltern, Kita oder Schule, Zivilgesellschaft – wir alle sind dafür verantwortlich, dass Kinderschutz umfassend gelingt und Hilfe möglich wird». Wörner und ihre Kolleg:innen im Vorstand sehen das genauso.

Geplante Maßnahmen

Der BdFWS erarbeitet aktuell einen Leitfaden zum Thema Aufarbeitung, ähnlich der Broschüre Gewaltprävention an der Waldorfschule, die übrigens stark nachgefragt ist. Im nächsten Schritt sollen alle Beteiligten über das Thema informiert werden, es wird mit verschiedenen Gremien wie der Bundeskonferenz, der Bundeselternkonferenz und der Bundesschüler:innenvertretung beraten. Dann wird das Thema auf der Mitgliederversammlung im November und auf der Delegiertentagung Ende Januar präsentiert. «Wir planen, auf der Mitgliederversammlung im März 2026 einen Beschluss zu erwirken, dass Aufarbeitung als Qualitätsmerkmal an jeder Schule verankert wird», so Wörner.

Unterschied zum Schutzkonzept

Aufarbeitung soll nach Meinung von Wörner als eigenständiges Thema behandelt werden, nicht als Anhang zum Schutzkonzept. Während das Schutzkonzept auf Prävention ausgerichtet ist, bezeichnet Aufarbeitung die aktive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Die Schule muss sich damit beschäftigen, wie es zu Übergriffen kommen konnte und welche schulischen Prozesse dies begünstigt haben. Die Erkenntnisse aus einem Aufarbeitungsprozess können dann wiederum das Schutzkonzept verbessern.

Die Bedeutung der richtigen Haltung

«Neben all den Formalia, die beim Thema Aufarbeitung beachtet werden müssen, ist meiner Meinung nach das wichtigste, dass die Schulen ihre eigene Haltung finden. Diese Haltung sollte offen und respektvoll sein, damit angemessen reagiert wird, wenn sich Betroffene melden. Die Haltung zu entwickeln, geht nur in einem gemeinsamen Prozess. Es gab Schulen, die haben formal korrekt gehandelt – dennoch fehlte ein stellvertretend für die Institution ausgesprochenes Bedauern von heutigen Verantwortungsträgern», berichtet Wörner. Die Schulen sollten signalisieren, dass sie bereit sind, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen und Verantwortung zu übernehmen – auch für Vorfälle, die lange zurückliegen. Diese Haltung umfasst auch die Fähigkeit, sich im Namen der Institution zu entschuldigen, selbst wenn die aktuellen Vertreter:innen nicht persönlich beteiligt waren.

Insgesamt nimmt Wörner an den Schulen Berührungsängste bei den Themen Sexualität, Körper und Scham wahr. «Als BdFWS empfehlen wir allen Schulen die Anstellung von Sozialarbeiter:innen. Sie können unterstützen, dass Kolleg:innen lernen, mit Kindern über Gefühle zu sprechen, über das Wahrnehmen von Grenzen, über Mobbing und so weiter. Alle Grenzüberschreitungen lösen Scham aus. Wir wollen Schulen dabei stärken, ihre Konzepte weiter zu entwickeln.»

Vorschlag für Aufarbeitungsprozess

«Ich vermute, dass es Schulen geben wird, die sagen ´Es reicht ja wohl, dann zu reagieren, wenn es so weit ist, wir haben genug anderes zu tun´. Wir wollen die Schulen nicht mit Mehrarbeit belasten, sondern sie mit unserer Forderung, sich mit der Aufarbeitung zu befassen, entlasten. Betroffene Schulen machen gute Erfahrungen mit unserer Unterstützung», so Wörner.

Wörner hat unter anderem mit Nele Auschra, die im BdFWS für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist, einen Vorschlag für einen fachlich korrekten Aufarbeitungsprozess entwickelt: «Es beginnt damit, dass ein unabhängiges Team gebildet wird. Darin sitzen Fachleute, Wissenschaftler:innen und Betroffene, die nicht in der Schule oder im BdFWS arbeiten. Sie bekommen Akteneinsicht und feste Ansprechpersonen. Alle unterschreiben eine Datenschutzerklärung. Innerhalb von drei Wochen legt das Team einen Plan mit Zeitrahmen vor und entscheidet selbst, wie Bericht und Vorgehen aussehen», erläutert Wörner. Betroffene können sich einbringen, wenn sie das möchten. In dem Bericht soll Schritt für Schritt beschrieben werden, was passiert ist, wer Täter:innen, Betroffene und Mitwissende waren und warum niemand rechtzeitig eingeschritten ist. Das Team schaut zudem, welche Bedingungen Taten begünstigt haben und welche Strukturen gefehlt haben, um sie zu verhindern. Wichtig ist auch, welche Maßnahmen seit Bekanntwerden ergriffen wurden und welche noch folgen müssen – etwa klare Abläufe, Schutzstrukturen oder Unterstützung durch Coaching und Supervision. Außerdem fügt man dem Bericht das Schutzkonzept hinzu und den Nachweis, dass alle Mitarbeitenden es kennen. Wörner: «Zum Schluss organisiert das Team die Kommunikation – nach innen, zur Landes- und Bundesebene und in die Öffentlichkeit – und sorgt dafür, dass alles ordnungsgemäß läuft.»

Unterstützung durch den Bund der Freien Waldorfschulen: waldorfschule.de/beratung-kontakt/anlaufstelle.
Alternative: Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch. Anonym und kostenfrei.
0800 22 55 530 / Telefonzeiten: Mo., Mi., Fr.: 9.00 bis 14.00 Uhr / Di., Do.: 15.00 bis 20.00 Uhr

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