Ohne Schule

Erziehungskunst | Warum soll man ohne Schule auskommen?

Andreas Laudert | Weil sich dann der eigentliche Sinn von selbstverantwortlichem Lernen und Bilden erst offenbart. Niemand soll mehr etwas. Elemente von Schule gäbe es weiterhin, aber ohne Pflicht. Der Punkt ist die Wahlfreiheit. Es geht um Bildungswege, die entstehen, indem man sie geht, individuell – statt in Startlöchern, Laufbahnen und Abschlüssen zu denken. Natürlich gelten bei der Beschulung – ein Begriff, der mich an Beschallung erinnert – auch menschenkundliche Gesetze. Aber diese sind stark genug, um sich selber zu schützen. Die Individualität ist hier manchmal die Ausnahme, die die Regel bestätigt, indem sie sie ignoriert. Viele Seelen bringen heute eine starke Sehnsucht nach Selbstständigkeit mit – danach, aus sich selbst heraus zu handeln. Es hat sich bei den Kindern konstitutionell etwas verändert.

EK | Welche Visionen haben Sie in Bezug auf ein zukünftiges Bildungswesen?

AL | Im Inneren der Gesellschaft verschieben sich die Bedeutungen und wir werden wach für die Möglichkeit, das, was als bisher gegeben gilt, zu verändern. Das hat auch problematische Aspekte, aber im Kern geht es darum, als Mensch zum Mit-Schöpfer zu werden. Das Vertrauen in Ich-Begegnungen ist für mich der Schlüssel. Jeder kann ja dem Anderen ein Lehrer, jeder ein Lernender sein. Ich sehe gewordene Formen – Institutionen, Berufe – eher als Gleichnisse. Institutionen sind wichtige biografische Anknüpfungs- möglichkeiten; natürlich sollte ein Heranwachsender nicht einfach in der Luft hängen. Aber Institutionen bergen stets die Gefahr einer Eigendynamik, da es vor allem um die Selbsterhaltung der Einrichtung geht.

Auch die erste Waldorfschule war für Steiner vielleicht nur eine Art Gleichnis. Und in Gestalt der Zigarettenfabrik und der Persönlichkeiten, die da waren, sah Steiner eine konkrete Realisierungschance für etwas, das er geistig vor sich sah: Wenn Schule, dann so. Seine Radikalität haben wir noch gar nicht begriffen, man hat sie eher immer mehr eingehegt.

EK | Warum das Kunstmittel Film?

AL | Der Film – bei allen Grenzen und Gefahren des Mediums – hat etwas Lebendiges, trotz der Distanz, die die Technik aufbaut, die aber dienend wirkt. Der Film ist das Medium des Beiläufigen, des Ungezwungenen, er ist wie unser Leben. Auch CaRabA berührt eher – so hoffen wir zumindest und so erleben wir es – durch Leichtigkeit, trotz des gewichtigen Themas.

EK | Was war Ihre Ausgangsüberlegung bei diesem Vorhaben?

AL | Es war letztlich eine Auftragsarbeit, ich bin nicht Initiator. Als ich anfing zu schreiben, wurde mir klar, dass es um Beziehung gehen muss, darum, zu erzählen, dass das Schicksal im Alltag Raum und Zeit braucht, um einzugreifen. Dass es keine Zufälle gibt, sondern Dinge sich fügen, wenn die Zeit reif ist. Genau das hat viel mit sich bilden zu tun. Wie schule ich mich denn? Was ist der Stoff, den ich zu formen, den ich mir anzueignen habe? Das bin ich selbst. Ich kann jeden Tag lernen – wenn ich wirklich bemerke, was mir passiert, was mir fehlt oder über den Weg läuft. Schule funktionalisiert Beziehungen oft. Im Fokus steht der Unterricht, der nicht gestört werden darf, aber der für viele Kinder selber die Störung ist. Entscheidendes findet dann in der Pause statt, im Satz, den ein Elftklässler zwischen Tür und Angel kurz hinwirft, oder in einem Blick, der ausweicht, aber in dem alles liegt, was in einem Kind arbeitet.

EK | Sie sind als Waldorflehrer tätig. Wie weit sind die Waldorfschulen von Ihrer Vision entfernt?

AL | Ich möchte mir absolut nicht anmaßen, hier Urteile oder Empfehlungen auszusprechen. Lange war ich eher Gast – was für den freien Blick jedoch hilfreich ist. Seit drei Jahren bin ich an einer wunderbaren Waldorfschule Teil eines Kollegiums, das sich sehr gewissenhaft mit den nächsten Entwicklungsschritten der Schule auseinandersetzt. Ich erlebe an Schulen oft die Neigung, trotz fleißigen Sprechens anthroposophischer Verse, dann doch nicht »alles Praktische im Licht des Geistes zu tun«. Dabei ist Geist total konkret, nur der Mut fehlt, ihn ernst zu nehmen. Lieber wurschteln wir uns so durch. Es braucht gar nicht große Visionen, aber vielleicht organisatorische Luft zum Atmen, organisch gewachsenen Freiraum, statt ihn sich vorzunehmen. Ich mag das Wort Vision nicht. Lieber spräche ich von Besinnung, ein Wort mit mehreren Bedeutungsebenen.

EK | Wie sollten sich Waldorfschulen weiterentwickeln? Wie könnte eine solche Entschulung konkret aussehen?

AL | Indem das Periphere mehr ins Zentrum rückt. Indem man den Stundenplan mehr individualisiert, mehr Auslandsaufenthalte und eigene Projektarbeit ermöglicht – und deren Resultate wieder in die Gemeinschaft einfließen lässt, eine neue Welt-Wahrnehmung für alle schafft, also die Acht- und Zwölftklassarbeit als Prinzip, nicht als Extrasache. Und indem man Arbeitsgemeinschaften, Randstunden oder »Künstlerisch-Praktisches« aufwertet, und andere Fächer dahingehend befragt, ob sie nicht auch reduzierter durchlaufen können. Ich würde die Basics unterrichten, aber nicht alle Feinheiten. Diese wird sich derjenige, der sich etwa für Biologie begeistert, später schon selber aneignen, wenn er als Ökologe Epoche machen will. Allenfalls werde ich ihm Wege dahin aufzeigen. Anstatt das Studium zu verschulen, müsste die Schulzeit ein Studium sein. Ich erforsche, was ich können muss, um mich im Alltag zurechtzufinden, und ich erforsche, was mich darüber hinaus interessiert, um mich ihm widmen zu können, mit Hilfe kompetenter Mentoren. Die Zeitschrift Erziehungskunst trägt das Künstlerische im Namen, weil es eben mehr ist als Kupfertreiben und Weben. Weil es eine Haltung ist. Weil ich als Mensch am Kunstwerk meiner Biografie webe.

EK | Warum das Grundsätzliche und Visionäre gegen die vorhandenen Möglichkeiten, die vielen Praktika ausspielen?

AL | Das ganze Leben ist ja ein Sozialpraktikum. Der Mitfahrer im Zug, der Ehepartner – ein Mensch komplizierter als der andere! Und ein Klassenspiel führt man als Schulgemeinschaft im Grunde auch ständig auf. Da gibt es bei Eltern, Lehrern und Schülern feste Rollen und Kumpaneien. Was ich damit sagen will: So wie die Religion auswandert aus den Kirchen in die Interaktion zwischen Ich und Ich, so wird die Pädagogik auswandern aus den Schulen. Und da muss man sich entscheiden, was zukünftig ist: Mehr Islamunterricht und mehr PCs im Klassenzimmer? Waldorfschüler früher und effektiver fit machen für den sogenannten Arbeitsmarkt? Wir haben zu viel erlebt als Menschheit, wir müssen nicht mehr bevormundet, es muss nicht mehr Politik mit uns gemacht werden. Will die Waldorfschule aus einer Kraft wirken und diese auch ausstrahlen auf die Schüler – einer Kraft, die mit Vertrauen zu tun hat in das Bild, das ich vor mir sehe, das Bild von dem, wozu ich berufen bin, einer Kraft, die das Ich des Kindes stärkt – oder will sie den Weg der Kompromisse mit staatlichen Rahmenbedingungen bis zur Austauschbarkeit gehen? Auch die vielen neuen Schulinitiativen, die Waldorf ein bisschen mit hineinmischen, sind wohl weniger die Lösung als vor allem ein Indiz, ein Symptom, ein Sichbewegen.

EK | Welchen Einfluss hatte Bertrand Stern auf das Filmprojekt?

AL | Einen kritischen, freilassenden, dankbaren.

Die Fragen stellte Mathias Maurer.

Alle Infos zum Film: www.caraba.de

Crowdfunding: www.startnext.de/caraba