Papier und Pinsel sind die absolute Freiheit

1924 in Kassel geboren, lebt forscht und lehrt Arno Stern seit Ende des Zweiten Weltkrieges in der französischen Kapitale. Dort hat er das Malspiel eingerichtet, an dem Menschen vom Kindesalter an teilnehmen können. Die Literaturpädagogin Melanie Hoessel besuchte ihn an seinem Malort in der Rue de Falguière in Paris.

Melanie Hoessel | Herr Stern, wie kann ich mir das Malspiel vorstellen?

Arno Stern | Schauen Sie, hier ist ein geschlossener Raum ohne Verbindung mit der Außenwelt. Nichts dringt in den Raum ein, das der Außenwelt angehört und nichts verlässt diesen Raum, um in der Außenwelt eine Rolle zu spielen. Was ein Kind hier äußert, wird nirgendwo gezeigt. Es ist nicht für andere bestimmt. Zum Malspiel gehört ein bestimmtes Angebot an Instrumenten: Pinsel, Farbe, Papier und Reißnägel zum Anbringen der Blätter an der Wand.

MH | Was passiert während des Malspiels?

AS | Das Kind geht zu seinem Blatt, das an der Wand aufgehängt ist, und beginnt mit dem Pinsel Farbe aufzutragen. Dabei erlebt es sich selbst inmitten der Gruppe, das ist etwas sehr wichtiges, dieses Gleichgewicht zwischen dem Gemeinsamen und dem Ureigenen. Das Kind läßt eine Spur entstehen.

MH | Was genau macht diese Spur aus?

AS | In der Geschichte der Menschheit sind seit jeher Spuren entstanden. Sie dienten aber immer der Vermittlung von irgendetwas. Der Künstler erarbeitet ein Werk. Er erwartet den Empfang seines Werkes. Hier gibt es keinen Empfänger und keine Erwartung, sondern nur ein Selbst, das sich erlebt. Dadurch ist die Kinderzeichnung grundverschieden von der Kunst. Man glaubt, ein Kind würde etwas darstellen, das für andere bestimmt sein könnte, es sei ein unerfahrener, noch unerfüllter Künstler. Würde sich ein Kind darauf einstellen, ein Kunstwerk anzufertigen, würde es nicht mehr frei spielen, sondern würde etwas vorspielen.

MH | Was unterscheidet die Spur von dem gemalten Bild?

AS | Die Spur, die hier entsteht, gehört einem Universalgefüge an, das ich die »Formulation« nenne. Es ist die unberücksichtigte Fähigkeit eines jeden Menschen. Etwas, das nirgendwo gefördert worden ist und daher mehr oder weniger verkümmert. Ich versuche als Dienender im Malspiel die Kinder so anzuleiten, dass in ihnen diese Fähigkeit wieder erweckt wird. Dafür muss ich die Formulation kennen, um ihr ohne Vorurteile begegnen zu können, ohne zu glauben, das Kind wolle etwas vermitteln oder es sei eine geheime Botschaft in seiner Äußerung enthalten. Man kann die Formulation wie eine Sprache mit ihren Bestandteilen und eigenen Abläufen kennen.

MH | Was genau ist die Formulation?

AS | Verstehen Sie, die Formulation ist die einzige Äußerungsmöglichkeit der organischen Erinnerung. In uns ist etwas verloren gegangen, was wir durch das Gedächtnis nicht wieder gewinnen können. Jeder Mensch kann an seine Kindheit zurückdenken, bis maximal zwei Jahre. Es ist wichtig, zu wissen, dass wir keinen bewussten Anfang besitzen. Wir haben kein eigenes Gefühl diesbezüglich. Gedächtnis kommt von Denken, Erinnerung aber heißt, in sein Inneres dringen und das ist das Geheimnis der Formulation. Sie ist die Funktion des organischen Erinnerns. Wenn wir die Formulation erleben, dann finden wir in unseren Anfang zurück. Dann können wir erleben, was wir empfunden haben, seit es uns überhaupt gibt.

MH | Wie reagieren die Kinder auf das Malspiel?

AS | In das Malspiel muss man sich einleben. Nach der ersten Malstunde sind die meisten Kinder unzufrieden. Man darf die Bilder nicht mit nach Hause nehmen und man bekommt keine Bewertung. Man gibt sich Mühe, aber man wird für seine Arbeit nicht belohnt. Im Malort wird natürlich geredet, aber nicht über die Bilder. Die strenge Anordnung hier entspricht nicht den Gewohnheiten der Kinder heute, die alles Mögliche tun, nur nicht sich konzentrieren. Heute wird gemalt, morgen wird geschnitten, übermorgen gebastelt. Immer etwas Neues. Aber nach ein paar Malstunden fangen die Kinder an, sich wohlzufühlen. Vor 30 Jahren haben die Kinder, wenn sie in den Malort gekommen sind, noch gespielt. Wenn ich Bilder betrachte, die bis 1980 entstanden sind, spiegelte sich in ihnen noch Üppigkeit und Begeisterung wider. Das ist verloren gegangen. Heute ist die erste Frage: Was soll ich tun? Das Kind spielt gar nicht. Es erwartet irgendeinen Auftrag.

MH | Ist das Spiel das Entscheidende?

AS | Ja! Kinder müssen ihr beigebrachtes Wissen ausscheiden, wie ein Gift, um sich zu erholen. Früher war es selbstverständlich, dass ein Kind spielt. Wenn ich zum Beispiel in eine Wüste kam oder zu Kindern, denen der Umgang mit Stift und Pinsel völlig fremd war, war es für sie doch ganz selbstverständlich, dass sie den Pinsel ergreifen und eine Spur entstehen lassen.

MH | Wie kann das Malspiel helfen, zurück ins Spiel zu finden?

AS | Vor 150 Jahren wurde der Zeichenunterricht eingeführt. Die Lehrer wollten den Kindern das Sehen beibringen. Aber Kinder beobachten doch viel mehr als Erwachsene. Wenn ein Kind zum ersten Mal hier in den Malort kommt, weiß es sofort, wo die Reißnägel sind, um die Bilder aufzuhängen. Das hat das Kind schon gesehen. Und nun sollen wir dem Kind beibringen, wie man Dinge richtig betrachtet? Die Kinder mussten im Zeichenunterricht Proportionen lernen und Anatomie und Perspektive. Das war eine kleine Belastung für die Kinder. Im Malort gibt es kein zu erreichendes Ziel, keine Erwartung. Hier gibt es nur das Erleben seiner selbst inmitten von anderen, die alle unvergleichbar sind. Die Kinder finden zu ihrer Spielfähigkeit zurück. Das ist heute eine der Hauptaufgaben des Malortes.

MH | Wie fing ihre Arbeit an?

AS | Am Anfang hatte ich keine Vorstellung. Ich bin als Flüchtling während des Krieges in der Schweiz interniert gewesen. Als der Krieg zu Ende war, kam ich nach Frankreich zurück und mir ist eine Stelle in einem Kinderheim für Kriegswaisen angeboten worden. Ich wusste nichts über die Arbeit mit Kindern. Ich sollte sie einfach beschäftigen. Ich fand Bleistiftstummel und Abfallpapier, also habe ich sie zeichnen lassen und sah ihre Freude. Dann gab ich ihnen Farben und war überwältigt von dem, was ich gesehen habe. Nach zwei Jahren habe ich einen Raum eingerichtet. Dieser Raum war geschlossen, denn er musste viele Kinder aufnehmen und die Blätter mussten aus Platzgründen an den Wänden hängen. Ich habe die Fenster mit Brettern verschlossen, um mehr Raum zu gewinnen. So richtete ich den Malort ein und erst viel später ist mir aufgefallen, dass die Arbeit in dem Malort ganz anders ist. Ich habe versucht, herauszufinden, warum das so ist. Die Geborgenheit des Raumes ermöglicht das Finden der eigenen Spur.

MH | Wie verträgt sich der Besuch im Malort mit dem Unterricht in der Schule?

AS | Schule geht von dem Begriff der Belehrung aus und das lehne ich ab. Kinder sind heute nicht mehr kindhaft, das ist etwas Tragisches. Aber immer mehr Menschen erkennen das. Als ich vor 20 Jahren vom Malspiel erzählt habe, bin ich noch angegriffen worden. Das hat sich ins Gegenteil verwandelt. Dabei erzähle ich dasselbe wie vor 30 Jahren. Heute sind die Menschen ergriffen, denn sie wissen, dass wir etwas ändern müssen.

MH | Was muss sich ändern?

AS | Wenn wir uns vorstellen, wie es anders sein könnte, dann wird es nicht anders. Wir müssen vom Kind, vom Leben ausgehen. Die Schulen habe eine Vorstellung, sie wollen das Kind irgendwo hinführen. Man schafft eine Erwartung und leitet das Kind dorthin. Was ich im Malort mache, ist nicht übertragbar auf die Schule und doch ist es wichtig, dass viele Menschen, die gerade innerhalb der Schule tätig sind, davon erfahren. Das Kind ist nicht unerfahren, nicht unerfüllt. Sie müssen ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie dem Kind vorschreiben, auf welche Weise es etwas tun soll. Das ist der Anfang.

MH | Sie plädieren dafür, dass Kinder nicht die Schule besuchen, sondern außerhalb der Schule Wissen erlangen.

AS | Das Schulangebot trennt die Eltern von ihren Kindern. Da leben die Kinder in der Schule und die Eltern leben im Büro und was wissen sie voneinander? Dass sie morgens wo hingehen und abends wiederkommen. Das ist doch kein Verhältnis. Die Gefahr ist da, dass die Generationen sich entzweien. Das ist nicht natürlich und wir müssen uns mit diesem Übel nicht abfinden. Wir müssen unser Denken ändern, unsere Sicht auf die Dinge. Wir sind die Erben der Kolonialzeit. Man hat geglaubt, wir wissen mehr und können mehr als andere und müssen anderen das beibringen. Das stimmt nicht.

MH | Und wir müssen bei den Kindern anfangen?

AS | Unbedingt. Freies Tanzen und gemeinsames Musizieren und das Malspiel sollte die Grundlage für das Leben aller Kinder sein. Papier und Pinsel sind die absolute Freiheit. Das kann jeder machen, bei diesem Spiel gibt es keine Beschränkungen. Und das Gemeinsame geht nie auf Kosten des anderen. Das Malspiel sollte an jeder Schule ergänzend zum Schulangebot stattfinden können, um einen Ausgleich zu schaffen, um die Kinder ins Spiel zurückzuführen. Wir müssen den Kindern das Spiel zurückgeben.

Um als Malspieldienender tätig werden zu können, kann man eine Ausbildung im Institut Arno Stern machen. Information hierzu unter: www.arnostern.com

Die Fragen stellte Melanie Hoessel

Zur Autorin: Melanie Hoessel ist Literaturpädagogin, Autorin und Mitarbeiterin der Anthroposophischen Gesellschaft NRW.