Ausgabe 03/25

Paulo Freire – Autonomie im Mittelpunkt

Fiona-Livia Bachmann


Überall auf der Welt hängen der Wohlstand von Elternhäusern und die Bildungschancen ihrer Kinder zusammen. Wenn gesellschaftlicher Aufstieg möglich ist, dann nur mit Bildung. Der Erwerb von Wissen und Kenntnissen gilt schon lange als entscheidendes Mittel zur Bekämpfung von Armut und Benachteiligung. Im weiteren Sinne generiert Bildung durch den Erhalt eines Berufs und Einkommens ein gesundes und langes Leben sowie die aktive Teilnahme am kulturellen, sozialen und politischen Weltgeschehen. Das demokratische Ziel der Chancengleichheit ist auch heute in hohem Maße an die Bildungspolitik eines Landes gebunden. Der brasilianische Befreiungspädagoge und Autor Paulo Freire sah im individuellen Bildungsweg ein großes Transformationspotenzial, das über Grenzen hinausgehen kann. Seine Definition von Freiheit verbindet Selbstbestimmung und Verantwortung. Er gilt als Pionier der Befreiungspädagogik, dessen Wirken bis heute auf der ganzen Welt Einfluss auf pädagogische Diskurse ausübt.

Gegen Not und Unterdrückung


Paulo Freire wurde am 19. September 1921 in Recife in Brasilien geboren und wuchs in einer kleinbürgerlichen Familie auf. Während der Weltwirtschaftskrise 1929 erlebte er Hunger und Armut. Diese Erfahrung weckte das Bedürfnis in ihm, den Kampf gegen Not und Unterdrückung aufzunehmen. Als Aufklärer und Humanist widmete er sein Leben der Befreiungspädagogik. Er entwickelte eine effektive Methodik, die sich im Wesentlichen durch eine Gleichstellung der Lehrenden mit den Lernenden, der Rolle des Dialogs und des kritischen Denkens und in weiterer Folge der gesellschaftlichen Emanzipation auszeichnete. Er stellte sich in den Dienst all jener Menschen, die aufgrund ihres Mangels an Bildung unterdrückt und unfrei waren. In Brasilien wurde Analphabet:innen das Wahlrecht verwehrt. Somit galt die Fähigkeit, lesen und schreiben zu können, als Voraussetzung, um an politischen Prozessen teilnehmen zu dürfen und von seiner eigenen Stimme Gebrauch zu machen. Sein Anliegen bestand darin, Menschen aus einer stumpfen Passivität und Unselbstständigkeit in das Bewusstsein der eigenen Gestaltungskraft ihres Potentials zu führen und dabei ihre Chancen auf persönliches Glück zu erkennen. Ein entwickeltes kritisches Bewusstsein führt zur Einsicht, dass das eigene Handlungspotential der Schlüssel dafür ist, die Welt zu verändern. Paulo Freire entwickelte Alphabetisierungsprogramme, die den Teilnehmer:innen in kurzer Zeit das Schreiben und Lesen beibrachten und sie zu vollwertigen Bürger:innen werden ließ. Sein Lebenswerk darf als ein erfolgreiches Experiment gesehen werden, das Menschen durch Hilfe zur Selbsthilfe zu mehr Freiheit und besseren Lebensbedingungen verhilft. Sein Wirken beeinflusste entscheidend die Demokratisierung Brasiliens. Paulo Freire verfasste viele Bücher zur Pädagogik, darunter Der Lehrer ist Politiker und Künstler. Er starb am 2. Mai 1997 in São Paulo. Bis heute gibt es die Freireanische Community, die sich mit Paulo Freires Pädagogik beschäftigt. Sie ist in Einrichtungen und Organisationen auf der ganzen Welt vertreten.

Mündig und kritikfähig


Wie sieht Paulo Freires Erziehung in der Praxis aus? In seiner Methode des problemformulierenden Ansatzes erfolgt das Lernen durch einen wechselseitigen Dialog zwischen dem Lehrenden und dem Lernenden. Auf diese Weise werden Mündigkeit und Kritikfähigkeit der Schüler:innen gefördert und die hierarchische Beziehung aufgehoben. Obwohl Paulo Freire insbesondere aufgrund seiner Alphabetisierungsprogramme bekannt war, setzte er nicht auf die mechanische Aneignung von Schreib- und Lesefertigkeiten. Sein Ausgangspunkt für das Unterrichten war das jeweilige konkrete Umfeld der Menschen. Sie sollten «die eigene Welt lesen lernen». Dies erfordert kein bedeutungsloses Abspeichern von Informationen, sondern die Bereitschaft, das Gelesene mit der persönlichen Lebens- und Arbeitswelt in Beziehung zu setzen. Die Freiresche Art zu Lesen beginnt mit dem Fragen und Erforschen des eigenen Lebensbereiches. In seinen Bildungsprogrammen zeigte Paulo Freire Zeichnungen in Form von Dias an der Wand mit den zugehörigen Begriffen. Die Bilder passten zum Lebenshintergrund der Teilnehmer:innen. Noch bevor diese lesen konnten, wurden sie angeregt, über das, was sie sahen, zu sprechen und in einen Dialog zugehen. Das Leben und das Vokabular der Gemeinschaft wurde zum Ausgangspunkt, um Wörter deuten und in weiterer Folge schreiben zu können. Diese Methode erweckt Neugier und Interesse, noch bevor das eigentliche Lehren des ABC erfolgt.

Nach innen schauen


Wie lässt sich Paulo Freires Perspektive in das heutige Bildungswesen integrieren? In Zeiten von Konkurrenz, Wettbewerb und der Fülle an Möglichkeiten verlieren Heranwachsende leicht Orientierung und Ausdauer. Zu erkennen, dass das eigene Potential in uns steckt, ist das beste Instrument, um das Leben selbstbestimmt und verantwortungsbewusst in die Hand zu nehmen. Paulo Freires Ansatz, der den Wissensprozess als fragendes Lernen deklariert, fördert die eigene Wissbegierde und Aufmerksamkeit durch das forschende Herantasten an verschiedene Themenfelder. Folgende Fragen können Schüler:innen zum Selbstdenken animieren: Was möchte ich erreichen? Wo liegen meine Stärken? Wie sieht die Zukunft unserer Erde aus? Was können wir zu einem friedlichen Miteinander beitragen?

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