Polyglott und voll geerdet

Ute Hallaschka

Die Biographie von Bruno Sandkühler ist märchenhaft, sie gleicht einem fliegenden Teppich. Egal welchen farbigen Einzelfaden man im Lebensgang verfolgt, stets ergibt sich das Muster eines traumhaften Zusammenhangs. Wo soll man also beginnen, von diesen achtzig Jahren Leben zu erzählen? Am besten in der Gegenwart. Da sitzen wir am Tisch in einer Stuttgarter Altbauwohnung, Bruno Sandkühler ist zu Besuch bei seiner Tochter, um die Enkel zu hüten. Er wird später mit ihnen ins Elsental gehen und damit begeben wir uns sogleich auf Zeitreise. Sie führt nach Namibia, Mitte des letzten Jahrhunderts. Von dort emigrierte die Familie Böhm nach Stuttgart. Sie erwarb das stadtnahe Gelände und begründete dort die Jugendfarm Elsental. Es war der Beginn der »offenen Jugendarbeit«, damals einmalig in Europa. Ende der sechziger Jahre drohte das soziale Projekt ideologisch vereinnahmt zu werden. Bruno Sandkühler übernahm auf Bitten der Betreiber den Vereinsvorsitz, den er bis heute innehat, und sorgte dafür, dass der buchstäbliche Freiraum erhalten blieb. Dies kann als seine typische Handschrift gelten, die Art und Weise, wie er den fliegenden Teppich seines Lebens dirigiert: Anthroposophische Impulse aus dem Geist der Freiheit so zu verstehen, dass die daraus folgenden Initiativen und Institutionen eben auch frei bleiben – offen für das Leben.

Bomben auf Dresden

Geboren wurde Bruno Sandkühler am 8. März 1931 in Stuttgart. Wie er als Achtjähriger, zu Beginn des zweiten Lebensjahrsiebts und des Zweiten Weltkriegs nach Dresden gelangte, ist ein Stück Zeitgeschichte. So wie sämtliche Waldorfschulen in Deutschland wurde auch die Stuttgarter Schule auf der Uhlandshöhe 1938 durch die Nazis verboten und geschlossen. Eine einzige Schule gab es noch in Deutschland –, so emigrierte eine Gruppe der Stuttgarter Waldorflehrer samt ihren Familien nach Dresden, um dort inmitten der geistigen Katastrophe den Schulbetrieb aufrecht zu erhalten. Mit der einsetzenden systematischen Unterdrückung »okkulter« Gruppierungen wurde auch die Dresdner Waldorfschule von den Machthabern geschlossen. Bruno Sandkühler besuchte fortan ein Reformgymnasium namens »Dreikönigsschule« – bis zur dritten Gymnasialklasse. Wir sind auf unserer Zeitreise in der Nacht vom 12. auf den 13. Dezember 1945 angelangt. Der Angriff auf Dresden erfolgte in zwei Wellen. Abends um halb zehn fielen die Brandbomben. Ihre Bestimmung war es, die Stadt zu erhellen, damit die Angriffsziele leichter ausgemacht werden konnten. Um halb ein Uhr nachts folgten die Sprengbomben. In der Zwischenzeit eilten die Menschen ins Freie, um zu löschen. »Ich hatte zu der Zeit eine Gärtnerphase«, sagt Bruno Sandkühler, »und hatte im Herbst Johannisbeerbüsche gepflanzt.« Sie erblühten in dieser Nacht durch die Hitze, die in der Stadt herrschte, während der Familie das Haus über dem Kopf zusammenfiel. Bruno Sandkühlers Mutter war Halbjüdin, aber sie wurde nicht behelligt. Stattdessen kam der Vater ins KZ Buchenwald zum Arbeitsdienst. 1944 aus dem Schuldienst entfernt, spielte er als Geiger und Bratschist kurz im Dresdner Philharmonie-Orchester, bis auch dieses geschlossen wurde. 

Die Uhlandshöhe wieder aufgebaut

Nach dem Krieg fand die Familie sich in Bayern wieder, auf dem Land, bei den Großeltern. Von dort ging der Vater mit drei Söhnen nach Stuttgart zurück. Die Mutter sah sich außerstande, noch einmal in einer Stadt zu leben, und so fand das Familienleben an zwei getrennten Orten statt. Vater Sandkühler und die Söhne hausten in den Trümmern auf der Uhlandshöhe bis der Schulbetrieb wieder möglich war. Sie bauten von Hand die Schule mit auf. Darüber vergaß der Vater ein Antragsformular auszufüllen und die Klasse, an deren Räumlichkeiten er mitgebaut hatte, war voll belegt – kein Platz für Bruno. Nur durch die Entschiedenheit des Klassenlehrers wurde er trotzdem aufgenommen. 1949 hätte er dort sein Abitur machen sollen. Man wurde damals als Waldorfschüler in 14 (!) Fächern geprüft – das war ihm echt zuviel, lieber ging der Schüler Sandkühler anschließend noch ein Jahr aufs Kepler Gymnasium, um dort 1950 ein »normales« Abitur abzulegen. Qualitativ bereicherte Lebenszeit, statt quantitativ berechnende Zielstrebigkeit: Eine Zeitökonomie, die gerade heute empfehlenswert scheint. Nun wollte Bruno Sandkühler eigentlich Chemie studieren, aber als ihm klar wurde, dass dieses Studium auf Mathematik basiert, die er nicht sonderlich liebte, da war’s auch nicht weiter schlimm, dass er dafür in Tübingen keine Zulassung bekam. Stattdessen gings mit dem Fahrrad über die Alpen nach Italien. Die italienische Reise führte zum Studium der Romanistik und Kunstgeschichte mit dem Schwerpunkt Italien in Perugia. 1951 wechselte er nach München und traf dort eines Tages im Zug den spanischen Kulturattaché, der ihm klarmachte, dass man als Romanist unbedingt Spanisch studieren müsse. Dies führte zum Wechsel nach Freiburg, wo die damalige Koryphäe Hugo Friedrich einen Teppichfaden des Schicksalsmusters von Bruno Sandkühler aufgriff mit dem Hinweis: wenn schon Spanisch, dann doch gründlich. – Er empfahl, Arabisch zu lernen. Und Bruno Sandkühler tat eben das. 

Plötzlich ein Reiseunternehmer 

1953 tingelte Bruno Sandkühler mit dem VW-Bus und einer studentischen Theatertruppe über Land. Sie führten, unterstützt von den amerikanischen Besatzern, englischsprachige Theaterstücke auf. Dies wiederum erweckte das Interesse des Vorsitzenden des deutschen YMCA – Graf Bernadotte, der die Truppe zu einem Kongress auf sein Anwesen, die Blumeninsel Mainau einlud. Hier begegnete Bruno Sandkühler einem ägyptischen Teilnehmer, der ihn zum Kennenlernen von Land und Leuten ermunterte. In der Folge ergab es sich, dass man preiswert an Deck eines Schiffes von Genua nach Alexandria reisen konnte. Diese erste Ausfahrt mit seinem Studienfreund Carl-Ernst Fischer führte bald zur Gründung eines florierenden Reiseunternehmens. Innerhalb von Wochen meldeten sich 400 Studenten an. Später folgten die zahlungskräftigen Eltern der Studenten, und so waren die Marco-Polo-Reisen geboren. Das Programm hat Fischer später für viel Geld an Studiosus verkauft, aber da war Bruno Sandkühler schon längst auf neuen Pfaden unterwegs. 1956 legte er das Staatsexamen in Freiburg ab, 1961 wurde er Lehrer in Stuttgart und gründete eine Familie. Seine erste Frau, Lissy, starb eine Woche nach der Geburt des Sohnes Tobias. Seine zweite Frau Angelika, die Schwester von Ernst Michael Kranich, heiratete er 1965 und lebte mit ihr über 30 Jahre, bis zu ihrem Tod 1996. Mit seiner dritten Frau, die er 2005 heiratete, hat er kürzlich in der Nähe von Tübingen ein Haus gebaut – auf einem Gelände am Hang, das keine richtige Zufahrt hat. »Tja«, sagt Bruno Sandkühler, »da hab ich die 160 Treppenstufen restauriert – man lernt ja viel Praktisches in der Waldorfschule – und da fahren wir jetzt alles, was wir brauchen mit der Sackkarre rauf.« Man traut seinen Ohren kaum. Da ist er wieder, der fliegende Teppich, der sich in Wirklichkeit aus einer selten harmonischen Verbundenheit mit dem eigenen Platz auf der Erde gründet. Das sind die Wurzeln der Freiheit. 

Stoff für mehrere Leben

Mit einer kleinen Unterbrechung war Bruno Sandkühler zweiundvierzig Jahre lang pädagogisch tätig, in der Hauptsache an der Michael Bauer Schule in Stuttgart. Dazwischen hat er natürlich noch allerhand anderes gemacht, was aber endgültig den Rahmen dieses Porträts sprengt. Auf seine Publikationen soll jedoch noch verwiesen werden, ebenso auf die Bandbreite seiner bis zum heutigen Tag andauernden Engagements – von dem Modellprojekt Sekem in Ägypten, dessen Gründungsimpuls er von Beginn an verbunden ist, bis zur Notfallpädagogik in Krisengebieten. Was die Arbeit und das Leben Bruno Sandkühlers auszeichnet, ist eine Doppelbewegung: Es tritt ständig Neues auf und zugleich bleibt er jedem Impuls treu, dem er einmal gefolgt ist. Stoff bleibt jedenfalls genug, er reicht für mehrere Leben. Für das große Thema Islam, aufgespart bis zum Schluss, bleibt uns nun wenig Zeit. Also konzentriere ich sie auf die entscheidende Frage: Ob und wie der Islam als Geisteshaltung sich selbst zur Moderne befreien kann? Bruno Sandkühler antwortet als Pädagoge und Wortkünstler: Es braucht einen zeitgenössischen Zugang zum Koran. Die einzige Chance liegt darin, den Kindern ein neues Verständnis zu ermöglichen. Die Eltern haben längst begriffen, dass ihre Kinder ein besseres Leben haben, wenn sie in der Gegenwart ankommen. Die Brücke müssen die Lehrer schlagen. Wenn sie den Weg in die Gegenwart freigeben, dann wird den Kindern erlaubt sein, ihn zu gehen. Was das Gespräch mit Bruno Sandkühler so erquicklich macht, ist seine Geisteshaltung. Ein vollkommen geerdeter Mensch, jederzeit zum spirituellen Aufschwung fähig, voller Witz, Weisheit und Wärme und – was in sozialer Hinsicht das Größte ist – absolut uneitel. Wer den Begriff »Schicksal« recht versteht, wird nicht nur glückliche Naturanlage oder Gnade in diesem Lebensgang am Werk sehen – der Lebenskunst liegt sicher das Kunstwerk der Selbsterziehung zugrunde. In diesem Sinne erscheint Bruno Sandkühler weniger als Vertreter, vielmehr als Souverän anthroposophischer Pädagogik. Mit herzlichen Glückwünschen und einem Dank für die Begegnung mit der Zukunft. Letztere liegt in der Offenheit der Anthroposophie dem Leben gegenüber. 

Einige Bücher, die Bruno Sandkühler verfasst hat:

Die frühen Dantekommentare und ihr Verhältnis zur mittelalterlichen Kommentartradition, München 1967 | Lernen Kinder mit dem Kopf? Stuttgart 1999 | Pedagogia Steineriana. In: Chistolini, Sandra (Hrsg.): Nella libertá educare alla libertá, Bari 2001 | Begegnung mit dem Islam. Lebensformen und Perspektiven einer Religion, Stuttgart 2005 | Rencontre avec l’Islam, Paris 2006