Das englische queer, mittlerweile gerade im großstädtischen Kontext zum Modewort herangewachsen, hat eine finstere Geschichte. In den USA der 1950er Jahre kam queer als Schimpfwort auf, mit dem vor allem Homosexuelle und Menschen, die von geschlechtlichen und sexuellen Regeln und Normen abwichen, als seltsam, komisch oder suspekt bezeichnet wurden. Ab dem Ende der 1980er Jahre fingen Bezeichnete innerhalb ihrer Community jedoch damit an, queer als Trotzwort positiv umzudeuten und so als Eigenbezeichnung zurückzuerobern. So umfasst queer heute als Sammelbegriff Menschen, die sich als Schwule, Lesben, Bisexuelle, Pansexuelle oder Asexuelle sowie als transgeschlechtliche, nicht-binäre oder intergeschlechtliche Personen bezeichnen, verweigert sich aber gleichzeitig einer klargeschnittenen Definition. Und das liegt in der Essenz der Sache: Wie das Wort queer schon lautmalerisch nahelegt, kommt es von dem deutschen quer, was sich wiederum aus der urindogermanischen Verbwurzel «terk» – drehen herleitet, verwandt mit dem lateinischen Verb «torquere» – verdrehen. Quer meint also vor allem nicht gerade, schräg, nicht konform und kann auch weitere Identitäten und Beziehungsformen wie Polyamorie oder bestimmte sexuelle Präferenzen umfassen, die von einer gesellschaftlichen Norm abweichen. Einen absichtlich immer in Bewegung bleibenden Sammelbegriff klar umreißen zu wollen, funktioniert nicht. Je nach Gruppe, Szene oder Individuum werden bestimmte Aspekte von Queerness betont und andere ausgelassen.
Was all diese Identitätsformen, Präferenzen und Rollen jedoch vereint, ist das Hinterfragen von Heteronormativität, dem Patriarchat und bestimmten moralischen Prinzipien. Heteronormativität nimmt dabei eine gegebene soziale Ordnung an, die besagt: Heterosexualität ist normal und bildet den Standard, das biologische Geschlecht stimmt mit Geschlechterrolle und der sexuellen Identität eines Menschen überein. Alles, was außerhalb dessen liegt, also nicht straight (gerade, geradlinig) ist, ist nicht normal. David Bloom sieht diese Weltsicht tief verankert in Kulturerzeugnissen, Praktiken und gesellschaftlichen Strukturen. Diese Weltsicht wird in der Schule im Sportunterricht, in Märchen, im Spiel und an den Toilettentüren erzählt. Bei der diesjährigen Bundeselternkonferenz (BERT) in Berlin bot er einen Workshop zur queeren Pädagogik an, bei dem die Teilnehmenden sich vor allem bewegt haben und ihre Grenzen austesten durften. Bloom macht es sich in seiner Arbeit zur Aufgabe, immer wieder dieses scheinbar Gegebene zu hinterfragen, umzudrehen, aufzulösen.
Rotkäppchen oder Mulan?
Einerseits kann sich queere Pädagogik im Speziellen als an queere Menschen und deren Anliegen gerichtet verstehen, andererseits kann sie eher als queersensible Pädagogik gesehen werden, die einen inklusiven Raum für LGBTQIA* schafft und sich zum Beispiel an Materialien bedient, die diverse Lebensformen und Geschlechteridentitäten beinhalten (zum Beispiel eine Protagonistin mit lesbischen Eltern oder ein transsexueller Held). Im zweiten Fall richtet sie sich automatisch an queere Identitäten und macht deren Lebenswelten sichtbar. Queere Pädagogik kann darüber hinaus bedeuten, sämtliche angeeignete Formen der Pädagogik, der Art wie Schule gemacht wird, wie wir uns im physischen Raum, im Klassenzimmer bewegen, in Frage zu stellen. Damit beschäftigt sich auch David Bloom intensiv. Queer ist dabei vor allem der Ruf nach einer Revolution unseres Blickes, also einerseits, wie wir die Welt sehen und andererseits kategorisieren und werten. Für seine Kinder war es stets normal, dass jemand zwei Mütter, zwei Väter, drei Elternteile hat.
Waldorfpädagogik lernte Bloom durch seine Kinder kennen und beobachtete an seiner Berliner Waldorfschule, wie viel dort nicht hinterfragt wurde: «Da gibt es sowas wie eine Leitkultur. Die ist deutsch, weiß, christlich, heteronormativ. Und das mitten in Berlin! Allen anderen Kulturen und Daseinsformen wird zwar offen und tolerant begegnet, es ist aber klar, wo sich das Zentrum befindet und von dem aus geschieht dann alles.» An Festen wie Fasching sei dies gut sichtbar. Im ersten Waldorfschuljahr feierten die Kinder Fasching mit dem Thema Märchen, «und da sind nicht chinesische oder arabische Märchen gemeint, sondern ein bestimmter Kanon an mitteleuropäischen Märchen, insbesondere die der Gebrüder Grimm. Das einzige schwarze Kind in der Klasse meines Sohns durfte sich dementsprechend aussuchen, ob sie Dornröschen oder Rotkäppchen sein wollte. Aus einer queeren Perspektive würde so wenig wie möglich als gegeben betrachtet werden». Dies gelte auch für Feiertage: Wenn das Schulbüro die alljährliche Weihnachts-E-Mail gegen Ende Dezember mit fröhlichen Weihnachtsgrüßen rausschickt, werde nicht zuerst gefragt, «wer feiert Weihnachten und wer womöglich andere religiöse Feste?», sondern «wer kümmert sich um den Adventsbazar?». Bloom wünscht sich, dass auch an den Waldorfschulen die Einsicht entsteht, dass man aktiv etwas tun muss. Offen und tolerant zu sein, sei nicht genug, sondern es brauche aktive Maßnahmen, um diese Ziele der Sensibilität gegenüber allen anderen zu erreichen.
Alles läuft über den Körper
So weit, so verkürzt. Wem hier nicht schon der DIN-genormte Kopf qualmt, darf sich der nächsten kreativen Denkakrobatik-Übung widmen: Wie ist queere Pädagogik nun mit Tanz und Bewegung anzugehen? Ergibt das Sinn? Was eröffnet sich möglicherweise dadurch? Und was fermentiert da denn nun? David Bloom nutzt in seinen Workshops vor allem somatische, also körper- und bewegungsbasierte Arbeit, bei der das innere Erleben im Vordergrund steht. Im Body Mind Centering, einer von der U.S.-amerikanischen Somatikerin Bonnie Bainbridge Cohen entwickelten Methode, geht es um verschiedene Systeme im Körper wie Knochen, Muskeln, Haut, Organe und Atmung. Mit diesen Systemen setzt sich Bloom mit seinen Teilnehmer:innen in Bewegung exploratorisch auseinander. Das schöne und automatisch verbindende dabei: Alle haben Organe, alle haben eine Haut, alle haben irgendeine Art von Knochenstruktur, inklusiv und ganz ohne politischen Rattenschwanz.
Ein weiteres Thema, zu dem der Künstler auch im Kontext der queeren Pädagogik arbeitet, sind Grenzen. Bei der diesjährigen BERT machte er dazu eine Übung mit seinen Workshop-Teilnehmenden: «Der Ausgangspunkt ist: eine Person empfängt und die andere gibt. Die empfangende Person kann durch ja oder nein, oder durch grün, gelb, rot signalisieren, welche Berührungen erwünscht, okay oder nicht gewollt sind. Somit kommt diese Person in ein sehr aktives Empfangen, also in einen stets bewussten Zustand.» Das queere daran liege im transparenten Rahmen, in dem für alle deutlich wird, was die Kräfte- und Rollenverhältnisse sind. Und, dass Berührungen, nicht unbewusst geschehen. Die Waldorfpädagogik hat seiner Meinung nach mit der Eurythmie schon einen guten Ansatz, mit dem Körper in Verbindung zu treten, ohne dass es dabei um Leistung oder Konkurrenz geht. Bloom wünscht sich jedoch, dass sich die Eurythmie mehr für andere somatische Bewegungstechniken und Entwicklungen öffnet und es wagt, den Blick zu weiten: «Ich bin dafür, dass in allen Schulsystemen Körperwahrnehmung als Pflichtfach am Anfang jedes Schultags steht. Wie fühle ich mich gerade, was geht in mir vor, wie trage ich das nach außen? Und was erkenne ich vielleicht für Blockaden, was sagt mir mein Körper über meine Beziehungen? Ich glaube, das würde viel gesellschaftliche Veränderung mit sich bringen.»
Queerness geht automatisch mit einem revolutionären Moment und einer Forderung nach gesellschaftlicher Transformation einher. Bloom versteht queere somatische Körperarbeit sogar als «Gegengift zum Kapitalismus» in einer Gesellschaft, in der neoliberales Denken suggeriert, nie genug zu haben, immer mehr zu brauchen, konsumieren zu müssen, zu kaufen. «Wenn du dich mit deinem Körper beschäftigst, merkst du auch erst mal, wieviel schon da ist und wie reichhaltig es ist, in Beziehung zu anderen Körpern zu treten. Der Körper ist das Einzige, was wir haben, um die Welt erfahren zu können, unser Wirken in der Welt geschieht durch ihn. Er ist das Medium, über das Grenzen und Begehren zum Ausdruck kommen, und der sich ständig transformiert.»
Eine von David Blooms Ballettlehrer:innen sagte einmal, er müsse sich «ganz auf die Bewegung einlassen», sich transformieren. «Wenn man eine Pose einnimmt, wird man zu etwas anderem. Die einzige Möglichkeit, sich zu verwandeln, besteht darin, ganz in die Bewegung hineinzugehen und das, was man tut, vollständig zu verkörpern.» Und das ist die Verbindung zur Fermentation: Gärprozesse sind lebendig, stets im Werden, stets in Verwandlung. Sauerteig muss gedehnt und gefaltet werden, und zwar unmittelbar und ohne zu zögern, in vollem Vertrauen, sonst gelingt die Verwandlung in einen geschmeidigen Teig nicht, sonst geht er nicht schön auf.
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